München/Wiesbaden – Darf man sich über ein solches Ergebnis freuen? Volker Bouffier steht am Sonntagabend gegen 18.30 Uhr vor seinen Anhängern und lächelt sein Volker-Bouffier-Lächeln – irgendwo zwischen verschmitzt und gequält. „Unser Einsatz hat sich gelohnt“, ruft der Ministerpräsident. „Wir liegen deutlich über der Bundespartei.“ Der alte Ministerpräsident ist in diesem Moment guter Hoffnung, dass er auch der nächste sein wird. Der 66-Jährige spricht von einem „Abend der gemischten Gefühle“. Der Balken mit den Verlusten beträgt für seine CDU mehr als zehn Prozentpunkte. „Das macht einen demütig“, sagt Bouffier, sieht dabei aber erleichtert aus.
Es ist ja alles relativ. 38,3 Prozent hatte die CDU am 22. September 2013 erreicht. Es ist ein Ergebnis aus einer anderen Zeit. Am gleichen Tag wurde damals Angela Merkel als Kanzlerin bestätigt. Dunkel erinnert man sich an diesen Wahlkampf: In Berlin hatte die CDU eine überdimensionierte Merkel-Raute plakatiert. Und die Kanzlerin warb mit einem saloppen „Sie kennen mich.“ Das genügte zum Erfolg. In Merkels Windschatten segelte Bouffier damals auf diese 38,3 Prozent, die ihm gestern unangenehme Fragen bescheren.
Die Analyse liegt auf der Hand: Es ging bei dieser Landtagswahl nur sehr bedingt um das, was sich in den letzten fünf Jahren in Hessen abgespielt hat. Und auch nicht wirklich darum, was sich in den nächsten fünf dort abspielen soll. Nein, die Zahlen von Infratest sind eindeutig: 73 Prozent der Wähler, die der CDU den Rücken kehrten, wollten der Partei einen Denkzettel verpassen. Bei der SPD waren es immerhin 50 Prozent. Dieses Hessen-Ergebnis ist also ein Berlin-Ergebnis, das erst in den kommenden Tagen seine Wirkung entfalten dürfte.
Vor allem in der SPD brodelt es. Nach der verheerenden Bayern-Wahl haben sich die Genossen noch zurückgehalten. Doch heute, wenn die Gremien in Berlin zusammenkommen, wird sich Manches entladen. Man muss nur das Gesicht von Thorsten Schäfer-Gümbel sehen, als er am frühen Sonntagabend vor seine Anhänger tritt. „Das ist ein schwerer und ein bitterer Abend für die hessische SPD“, sagt er. Ratlosigkeit liegt in seinem Blick. Das schlechteste Ergebnis seit 1946. Alle Umfragen hätten gezeigt, dass man auf die richtigen Themen gesetzt habe und der SPD gute Kompetenz bescheinigt wurde. Wäre nicht der Trend aus Berlin gewesen.
In der Hauptstadt tritt kurz darauf Andrea Nahles vor die Kameras. Sie kommt allein. Und trägt schwarz. „Wir haben hier in Hessen eine sehr gut aufgestellte SPD erlebt, einen hoch kompetenten Kandidaten, der nichts falsch gemacht hat.“ Mehr kann die SPD-Vorsitzende Schäfer-Gümbel nicht von jeglicher Schuld freisprechen. Er ist im Bund ihr Stellvertreter. Ebenso wie Natascha Kohnen, die es vor zwei Wochen in Bayern erwischt hatte. Für Hessen macht Nahles allein Berlin verantwortlich: „Der Zustand der Koalition ist nicht akzeptabel.“ Sie fordert vom Koalitionspartner, Personalfragen rasch zu klären. Auf gut deutsch: Wenn die CSU ihren Vorsitzenden Horst Seehofer loswerden will, soll sie sich gefälligst beeilen. „Wir legen unser Schicksal nicht in die Hände unseres Koalitionspartners“, stellt Nahles klar. Deshalb werde man darauf bestehen, dass sich die Koalition einen „klaren und verbindlichen Fahrplan“ gebe – bis zur Hälfte der Legislatur dann alles auf den Prüfstand kommt.
Einzelne Politiker wie der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach spekulieren schon am Abend über ein Ende der Großen Koalition. „Es ist offensichtlich, dass den Regierungsparteien die Kontrolle über die Existenz der Regierung ein bisschen entgleitet“, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert bei Phoenix. „Jedes kleine Feuerchen kann das Ganze zum explodieren bringen.“ Allerdings scheint ein sofortiger Austritt unwahrscheinlich, da der SPD bei einer Neuwahl gravierende Verluste drohen.
Während die Große Koalition in stürmische Zeiten segelt, surfen die Grünen weiter auf ihrer Euphoriewelle. Wie schon vor zwei Wochen in Bayern sind sie – neben der AfD, die nun in allen Landtagen angekommen ist – der größte Gewinner des Abends. „So grün war Hessen noch nie“, lautet die Formel, die die Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir und Priska Hinz an diesem Abend wiederholen. „Der Megatrend der letzten Monate ist doch: Die grüne Bewegung wächst stark und stetig, während die lautstarke Minderheit am rechten Rand stagniert“, findet der bayerische Fraktionschef Ludwig Hartmann. Deutschland könne „zur Keimzelle einer starken Gegenbewegung zu den rechtspopulistischen Parteien in Europa werden“.
Doch bei aller Euphorie: Klar ist am Abend noch nichts. Die Mehrheiten sind bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch extrem knapp. Wie immer in Hessen kann die Auszählung noch Überraschungen bringen. Und je länger der Abend dauert, desto unübersichtlicher wird es. Sieht es zunächst noch so aus, als könne Bouffier das Bündnis mit den Grünen recht sicher fortsetzen, heißt es am Abend, dass eine notwendige Mehrheit knapp verpasst werden könnte. Dann müsste ein Dreierbündnis gesucht werden.
Umwälzungen sind auch auf Bundesebene zu erwarten. Oder eben nicht. Während Bouffier von einem „Weckruf“ spricht, klingt CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht so, als stünde in der CDU ein Putsch bevor. Merkel habe erklärt, dass sie im Dezember wieder als Parteichefin kandidiere, sagt sie nüchtern. „Ich habe bis zur Stunde keine anderen Signale.“