Berlin/München – Es ist, als ob Angela Merkel noch genauer als sonst auf ihre Formulierungen achtet. Als die CDU-Vorsitzende bei der Pressekonferenz nach der zweiten krachend verlorenen Landtagswahl binnen 14 Tagen am Montag zu jenem Thema kommt, auf das alle im Adenauerhaus warten, redet sie besonders besonnen. Immer wieder blickt Merkel in ihre Notizen. Was die als Physikerin der Macht bekannte 64-Jährige verkündet, darf als Sensation bezeichnet werden: Einen Ausstieg aus der Politik mit Ansage – und scheibchenweise. Ob das gelingen kann?
Sie habe das sichere Gefühl, dass es an der Zeit sei, ein neues Kapitel aufzuschlagen, beginnt Merkel ihre Rückzugserklärung. Dann kommt es Schlag auf Schlag: Keine erneute Kanzlerkandidatur. Rückzug aus dem Bundestag 2021. Keine weiteren politischen Ämter (auch nicht in Brüssel). Als Kanzlerin wolle sie für den Rest der Legislaturperiode weiter arbeiten – dann ist Schluss.
Mit dieser Entscheidung weiche sie „in ganz erheblichem Maße von meiner tiefen Überzeugung ab, dass Parteivorsitz und Kanzleramt in einer Hand sein sollten“, sagt Merkel und kommt damit gleich selbst auf den wunden Punkt zu sprechen. „Das ist ein Wagnis, keine Frage.“ Sie sei dennoch zum Ergebnis gekommen, dass dies vertretbar sei.
Noch vor wenigen Wochen hatte Merkel öffentlich erklärt, sie sei für vier Jahre als Kanzlerin gewählt. Außerdem sei bekannt, dass sie es schon immer für richtig gehalten habe, Kanzleramt und Parteivorsitz in einer Hand zu behalten. Im Hinterkopf, das wissen sie in der CDU seit langem, hatte Merkel dabei immer das Schicksal ihres SPD-Vorgängers Gerhard Schröder. Als der wegen der Debatte über die „Agenda 2010“ auf den Parteivorsitz verzichtet hatte, sei dies der Anfang vom Ende seiner Kanzlerschaft gewesen – davon ist auch Merkel überzeugt.
Nun zieht sie selbst die Reißleine. Es dürfte einer der letzten Momente gewesen sein, in denen die Kanzlerin darauf hoffen konnte, ihren Abgang einigermaßen selbstbestimmt zu gestalten. Das war schon immer ihr Ziel – es anders als ihre Vorgänger zu schaffen, den Zeitpunkt für den Ausstieg selbst zu bestimmen. Mehr als 20 Jahre ist es schon her, dass Merkel der Fotografin Herlinde Koelbl gesagt hat, sie wünsche sich, nicht als „halbtotes Wrack“ aus der Politik auszusteigen. Vertraute erzählen, Merkel habe sie damals gebeten, ihr offen zu sagen, wann es Zeit ist zu gehen. Damals waren ihre Eindrücke von Helmut Kohl noch ganz frisch.
Natürlich handelt die CDU-Chefin längst nicht mehr frei. Der interne Druck und die Dynamik sind so groß, dass die Kanzlerin, ihre Entscheidung zum Verzicht auf den Vorsitz eine Woche früher als geplant verkündet – eigentlich wollte sie dies bei der Vorstandsklausur am Sonntag und Montag tun. Dabei habe sie ihren Entschluss schon vor der Sommerpause gefällt.
Was die Kanzlerin dann über die Arbeit ihrer Regierung sagt, kann als Abrechnung mit der CSU, deren Chef Horst Seehofer und mit Teilen der SPD verstanden werden. „Das Bild, das die Regierung abgibt, ist inakzeptabel.“ Das ist fast wortgleich der Satz, den Andrea Nahles am Vorabend benutzt hat. Es wäre „ein Treppenwitz der Geschichte, wenn man schon nach gut sechs Monaten den Stab über diese Bundesregierung brechen müsste, nur weil sie sich nicht in der Lage sieht, so zu arbeiten, dass es die Menschen nicht abstößt“, schiebt sie bitter hinterher.
Auf die Frage, ob sie nun nicht demnächst eine „lame duck“, eine „lahme Ente“, sei, und ob es eine Notlüge gewesen sei, als sie angekündigt habe, erneut anzutreten, sagt Merkel später gewohnt nüchtern: „Alles hat seine Vor- und Nachteile. Ich habe mich jetzt für diese Variante entschieden.“
Bei der CSU in München wird die Nachricht verhalten aufgenommen. Sie platzt in die Trauerfeier des ehemaligen „Bayernkurier“-Chefs Wilfried Scharnagl. Edmund Stoiber bekundet „großen Respekt“. Erwin Huber spricht von einer „Konsequenz aus einer Folge an Wahlniederlagen“. In der kleinen Schwesterpartei, in der so viele so lange mit Merkel gehadert haben, will keine Erleichterung aufkommen. Zu sehr hängt die eigene ungelöste Personaldebatte in der Luft. Seehofer, dessen Verhältnis zu Merkel genügend Stoff für eine neue „Netflix“-Serie liefern könnte, sagt am Montag: „Es ist schade. Ich sage ausdrücklich: Es ist schade.“ Am Abend kündigt er im BR an, spätestens in zwei Wochen bekanntzugeben, wie es personell in der CSU weitergehen soll. Der Generationenwechsel sei allerdings bereits vollzogen.
In Berlin lautet derweil die Frage: Was kommt jetzt? Merkels Rückzugsankündigung als Parteichefin ist am Montag noch gar nicht offiziell, schon bricht der Kampf um ihre Nachfolge aus. Die Nachricht macht die Runde, dass Friedrich Merz, der Merkel im Machtkampf nach der verlorenen Bundestagswahl 2002 unterlegen war, beim Parteitag in Hamburg als Nachfolger kandidieren wolle. Der Name birgt eine gewisse Ironie: Seit 2015 hatte sich die CSU-Spitze immer wieder die Köpfe zerbrochen, wer statt Merkel das Kanzleramt übernehmen könne. Wolfgang Schäuble wurde genannt, aber auch der Name Merz geisterte immer wieder herum. Allerdings gab es auch Bedenken wegen Merz’ Tätigkeit bei der Investmentfirma Black Rock. In einem Wahlkampf könnten sehr unangenehme Fragen gestellt werden, lautete die Befürchtung.
Im Verlauf der Montags melden auch Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn Ambitionen an. Auch der Merkel-Vertraute Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hält sich eine Bewerbung offen. Dass Merkel die Generalsekretärin als Erbin favorisiert, gilt als offenes Geheimnis. Spahn hat sich dagegen zu ihrem Missfallen immer wieder als Kritiker und Vertreter der Konservativen in der Partei profiliert. Die Kampfabstimmung auf dem Delegiertentreffen in Hamburg wird also auch zu einer Richtungsentscheidung.
Öffentlich will sich Angela Merkel am Montag nicht zur Nachfolgefrage äußern. Sie weiß vermutlich, dass eine klare Positionierung für Kramp-Karrenbauer eher schaden würde.
Die Zeiten der starken Kanzlerin Merkel sind mit diesem Tag endgültig vorbei.