Tours – Europa begeht am 11. November den 100. Jahrestag des Kriegsendes. Er fällt seit jeher auf einen anderen Gedenktag, der den Franzosen einst besonders heilig war: Sankt Martin. Doch in Frankreich ist das Erbe eines seiner größten Bischöfe in Vergessenheit geraten – seit 1918 von einem völlig anderen Ereignis überdeckt. Warum, das kann man in der Krypta der Martinsbasilika von Tours entdecken, ganz nahe beim Grab des Heiligen.
Dort ließ der tief katholische Oberkommandierende der Westalliierten, Marschall Ferdinand Foch (1851–1929), eine Danktafel für den Sieg im Ersten Weltkrieg anbringen. Sie trägt das Datum der Unterzeichnung des Waffenstillstands: den 11. November 1918. Seither ist der 11. November in Frankreich staatlicher Feiertag: „Armistice“, Waffenstillstand.
Für das Bewusstsein um den heiligen Martin war das ungewollt ein Bärendienst. Denn bis heute wird an seinem Namenstag der Kriegsveteranen gedacht und nicht mehr des Heiligen aus der Antike (316–397). Selbst in seiner Bischofsstadt Tours ist der erste Gottesdienst am Morgen des 11. November stets eine Soldatenmesse mit Pauken und Trompeten. Nun ja: Am Anfang war Martin schließlich auch mal Soldat – bis er seinen Mantel mit einem anderen teilte.
Professor Bruno Judic, Präsident des Europäischen Kulturzentrums Martin von Tours, sieht im 11. November in Frankreich einen hohlen Braten, ein „leeres Fest“. Die Situation sei paradox: In Deutschland sei der 11. November ein Freudentag mit reichem Brauchtum zu einem französischen Heiligen; in Frankreich dagegen sei der Martinstag „ein trauriger Tag für jene, die für Frankreich gefallen sind“.
Um diese historische Grätsche nach nunmehr 100 Jahren zu beenden, haben Judic und der Leiter des Europäischen Kulturzentrums Martin von Tours, Antoine Selosse, einen ziemlich guten Plan ausgetüftelt. Der 11. November fällt dieses Jahr ausgerechnet auf einen Sonntag. An diesem Tag, so hoffen sie, werden die Elf-Uhr-Glocken wieder für den Europäer Martin läuten – und nicht mehr nur für die alten Kameraden.
Selosse bringt am Martinstag 397 elfjährige Kinder aus Martinsorten in Europa zusammen. 397, das ist das Todesjahr des Heiligen. Sie treffen sich im Ardennen-Ort Dom-le-Mesnil bei Sedan an der Maas, wo das erste Te Deum nach dem Läuten des Waffenstillstands gesungen wurde. Nach einer Besichtigung der Schlachtfelder wird ein Kunstwerk enthüllt. „Der geteilte Mantel“, eine Stele des Künstlers Michel Audriard, enthält eine eingravierte Friedensbotschaft, die in mehreren Sprachen verlesen wird. Anschließend stimmen Mitglieder des Jugendorchesters der Europäischen Union (EUYO) ein Martinslied sowie das Te Deum an.
Finanziert wird das Projekt zum 100. Jahrgedächtnis an den Waffenstillstand der einstigen Erbfeinde Frankreich und Deutschland unter anderem vom Europarat, aber auch von den Martinsgemeinden selbst. Beteiligt sind die Martinskathedrale im belgischen Ypern, das im Ersten Weltkrieg vollständig zerstört wurde. Oder das französische Chaumont-devant-Damvillers, wo am 11. November 1918 um 10.59 Uhr der letzte Soldat des Krieges starb; die Martinskathedrale in Mainz und die Martinskirche in Worms, wo der heilige Martin einst die römische Armee verließ.
Antoine Selosse gehen unterdessen die Ideen nicht aus, um das geistige Erbe des Heiligen weiterzuverbreiten. Allein in Frankreich tragen 220 Städte und Gemeinden den Namen von Sankt Martin. Auf einer „Tour de France“ mit dem Elektroauto will Selosse demnächst die schönsten und engagiertesten Martinskirchen und -gemeinden des Landes finden, um sie für 2020 nach Tours einzuladen; um ihnen „ihr Kulturerbe zurückzugeben“, aber natürlich auch, um Martinsrezepte und -spezialitäten miteinander zu teilen. Aufladen, einladen, teilen; diese Begriffe fallen immer wieder, wenn Martinsmänner aus Europa miteinander sprechen.