München – Als Birgit Härle, 50, ihre Diagnose bekommt, denkt sie zuerst an ihre Tochter: „Mein Kind hat jetzt keine unbeschwerte Kindheit mehr“, pocht es in ihrem Kopf. Es ist ein kalter Tag im Februar 2017 – der Tag nach dem achten Geburtstag von Birgit Härles Tochter. Bald ist die große Geburtstagsparty. Und danach, das weiß die Mutter, muss sie mit der Tochter sprechen, sie muss ihr die Wahrheit sagen: über den Krebs in der Lunge.
Birgit Härle, wacher Blick, sanftes Lächeln, großer Kampfgeist, ist keine Frau, die klagt, sondern die Dinge anpackt. „Ich war schon immer der Hands-on-Typ“, erzählt sie. Ein Mensch, der sein Schicksal in die Hand nimmt. Und deshalb handelt Birgit Härle.
Sie und ihr Mann setzen sich mit der Tochter zusammen. „Mama hat Krebs“, sagen sie. Das Kind wirkt gefasst. Doch rund eine Woche später müssen sie noch mal mit der Kleinen reden. Denn jetzt haben die Ärzte bei Birgit Härle Metastasen im Hirn entdeckt – der Krebs hat also gestreut. Die Eltern sagen diesmal: „Der Krebs ist jetzt auch im Kopf.“ Die Tochter fragt ihre Mutter: „Musst du sterben, Mama?“ Und die Mutter antwortet: „Wir tun alles dafür, dass der Krebs wieder weggeht.“ Das Kind fängt an zu weinen, zum ersten Mal seit der Diagnose. Denn Mamas Antwort ist kein „Nein, ich muss nicht sterben.“ Mamas Antwort bedeutet: „Ja, das kann passieren.“ Birgit Härle zerreißt es innerlich, aber äußerlich bleibt sie stark. Sie weiß, sie muss ehrlich sein. Eine Lüge, auch nur zum Schutz des Kindes, könnte verheerende seelische Folgen haben.
„Kinder haben ungeheuer feine Antennen“, sagt Claudia Mück, Therapeutin bei der Familiensprechstunde der Psycho-Onkologie am Klinikum der Universität München. Gefördert wird diese Sprechstunde vom Verein „lebensmut“. Mück erklärt: „Die Kinder spüren, wenn etwas mit Mama oder Papa nicht in Ordnung ist. Schon kleine Kinder merken, da ist was komisch – und fragen sich sehr oft: Hat mich Mama nicht mehr lieb? Bin ich schuld, dass es Papa nicht gut geht?“ Schnell würden Kinder damit beginnen, unter der ungeklärten Situation zu leiden. Deshalb ermutigt Mück Eltern stets, „den Kindern möglichst früh zu sagen, was los ist“. Vor allem eines sei wichtig: „Alles, was ich sage, muss wahr sein!“
Birgit Härle hat von Anfang an die Wahrheit gesagt. Inzwischen habe ihre Tochter einen „relativ unverkrampften Umgang mit der Krankheit“, erzählt sie. Letztens, als ein Handwerker da war, fragte die Tochter die Mutter: „Weiß der eigentlich, dass du Krebs hast?“ Der Krebs gehört jetzt zur Familie. Zwangsläufig.
Dass Birgit Härles Tochter im Alltag meist gut klarkommt, liegt auch daran, dass sie weiß: Ich bin nicht allein, anderen Kindern geht es genauso wie mir. Kennengelernt hat sie diese Kinder bei den „Bergfüchsen“, einer Gruppe von 6- bis 14-Jährigen, die sich einmal im Monat treffen – und eines gemeinsam haben: ein Elternteil mit Krebs. Bei den „Bergfüchsen“ gibt es keine Tabus. Hier kann jeder sein, wie er will – jeder darf seine Gefühle zeigen.
Birgit Härle wusste von Anfang an, dass ihre Tochter Unterstützung brauchen würde. Sie hat ein feines Gespür: als Mutter, aber auch als Frau. Damals, kurz vor der Diagnose, ahnt sie schon, dass „dieses Gefühl in der Brust“ keine Erkältung sein könne, wie ihr Hausarzt zunächst feststellt. Und deshalb geht sie zu einem Lungenfacharzt. Der entdeckt auf dem Röntgenbild einen dunklen Schatten auf der Lunge. Nach einer Computertomografie ist klar, was der Arzt längst vermutet hat: Krebs. Der Tumor kann durch eine OP nicht entfernt werden, er sitzt „so blöd“, sagt Birgit Härle.
Seither, also seit knapp zwei Jahren, ist sie in Behandlung: Chemo und Immuntherapie, dann wieder Chemo, noch eine Therapie und ständig Tabletten. Im Juli 2018 heißt es plötzlich: Die Hirnmetastasen sind weg! Doch dann spürt Birgit Härle im Oktober, vor rund einem Monat, dass irgendwas nicht stimmt, dass ihr Arm immer wieder taub wird – und sie ahnt: Die Metastasen sind wieder da. Sie behält Recht.
Inzwischen hat Birgit Härle aufgehört, Statistiken zu lesen, die Überlebenschancen in Wahrscheinlichkeiten angeben. Statistisch betrachtet gehört sie ohnehin zu den Ausnahmen: Sie hat Lungenkrebs, obwohl sie nie geraucht hat. Womöglich wird sie in gut drei Jahren auch zu diesem einen Prozent gehören, „das die ersten fünf Jahre geschafft hat“. Birgit Härle hofft darauf.
Aber wie jeder Mensch hat auch sie „schlechte Tage“ – und fragt sich dann oft: Werde ich erleben, wie meine Tochter zum Teenager wird? Werde ich für sie da sein, wenn sie ihren ersten Liebeskummer hat? Vielleicht. Hoffentlich.
Und doch: Eines ist Birgit Härle sehr bewusst geworden. „Es hätte noch schlimmer laufen können“, sagt sie. „Ein Autounfall – dann ist man sofort tot.“ Keine Chance, darüber zu sprechen, keine Chance sich vorzubereiten – oder gar zu verabschieden.
Birgit Härle weiß nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Das weiß niemand. Aber dafür weiß sie: „Die schönen Sachen müssen wir sofort machen.“ Und genau das macht ihre Familie. Ein spontaner Wochenend-Trip nach London zu dritt? Klar! Bloß nichts aufschieben. „Zuerst kommen mein Kind und mein Mann“, sagt Birgit Härle. Danach kommt erst mal nichts. Diese beiden Menschen sind ihre „Glücke im Unglück“.