Das Wunderwerk vom Walchensee

von Redaktion

Vor hundert Jahren begannen die Arbeiten für die „noble, alte Dame vom Walchensee“: 2000 Arbeiter schufteten ab dem 25. November 1918 für eines der größten und effektivsten Hochdruck-Speicherkraftwerke Deutschlands.

VON GÜNTER DREWNITZKY

Kochel am See – In zweieinhalb Minuten von Null auf 100 – für ein Auto wäre das kein Ruhmesblatt. Für ein Kraftwerk, das in dieser Zeit aus dem Stillstand 124 Megawatt liefert, ist es das schon. Und im laufenden Betrieb auf Volllast zu gehen, ist für das Walchenseekraftwerk im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen eine Sache von Sekunden. Gerade darum ist dieses Meisterstück der Technikgeschichte heute gefragter denn je: Die stark schwankenden Einspeisungen von Strom aus Sonne und Wind verlangen nach solchen flexiblen und schnellstartfähigen Anlagen. Nur durch sie lässt sich das Stromnetz unter diesen schwierigen Bedingungen stabil halten.

Die Idee zum Bau des Kraftwerks entstand bereits im Jahr 1897. Obwohl sich der Entwurf „Einfach und sicher“ durchsetzte, der von allen Vorschlägen die meiste Rücksicht auf Natur und Umwelt nahm, waren die Widerstände gegen das Projekt groß: Da aus dem obenliegenden Walchensee Wasser entnommen und mit sechs Druckleitungen über die Turbinen nach unten in den Kochelsee geleitet wird, fürchteten etwa die Fischer um ihre Existenz. Weil zum Ausgleich für den Walchensee-Wasserspiegel über einen Kanal Isar-Wasser abgezapft werden sollte, protestierten die Isar-Anreiner. Die Münchner Abwässer flossen damals ungeklärt in die Isar und man fürchtete bei weniger Wasser mehr Dreck und Gestank. Und schließlich war da noch der Riesenwaller, der laut einer Sage im Walchensee schläft. Was würde passieren, wenn man ihn mit den Bauarbeiten aufweckt?

Auch ums Geld drehten sich die Debatten. Für welche Industrien eigentlich dieses große Wasserkraftwerke Verwendung finden solle, wollte ein Ingenieur wissen. Er meinte, dass das Kraftwerk viel zu viel Strom erzeugen würde. Zumindest diese Sorge plagt heute niemanden mehr. Die Klagen gegen das Vorhaben wurden in 20 getrennten Verfahren verhandelt und sie führten, wenn der Betroffene Recht bekam, zu Entschädigungen.

Die Bauarbeiten, die 1918 nach einem Landtagsbeschluss im Juni am 25. November 1918 begannen, waren für die 2000 Arbeiter eine für heutige Zeiten unvorstellbare Schinderei. 17 ließen ihr Leben, viele erkrankten beim Stollenbau oder verletzten sich.

Als einer der schwierigsten Abschnitte galt der Vortrieb des 1,2 Kilometer langen, mehr als vier Meter hohen und breiten Kesselbergstollens. Zwei bis drei Meter auf jeder Seite kamen die Arbeiter täglich mit Presslufthämmern und Sprengungen voran – ohne Gehör- und Atemschutz. Der Durchschlag erfolgte ein Jahr nach Baubeginn – passgenau.

Über den Stollen fließt das Wasser vom Walchensee ins sogenannte Wasserschloss, ein Hochbehälter, der 10 000 Kubikmeter fasst. Der Name Schloss bezeichnet übrigens keinen Prachtbau, wenn auch ein überaus imposantes Gebäude von 36 Metern Höhe. Er leitet sich von schließen ab. Hier können die ins Tal führenden Druckrohre im Notfall oder für Wartungsarbeiten einzeln abgesperrt werden.

Im Normalfall schießt das Wasser unten mit bis zu 216 Kilometer pro Stunde in die Turbinen. Die gigantischen Rohre, die markantes Erkennungszeichen des Kraftwerks sind, wurden damals in acht Meter langen Stücken angeliefert und von oben nach unten eingebaut. Die Länge der Rohstränge beträgt 430 Meter, was bedeutet, dass 54 Rohrteile verschraubt werden mussten.

Darüber hinaus galt es, für die Trasse 13 000 Kubikmeter Fels zu beseitigen. Ein Detail zeigt, wie durchdacht dieses Projekt war, das vom Münchner Ingenieur Oskar von Miller mit aller Macht vorangetrieben wurde: Die Rohrleitungen verlaufen zunächst in gerader Linie am Maschinenhaus vorbei, knicken dann zum Eintritt ins Gebäude um 90 Grad und fest mit Beton versiegelt ab. So konnte sichergestellt werden, dass bei einem Rohrplatzer nicht die Halle überschwemmt wird und die Generatoren zerstört werden. Das Wasser wäre an der Seite vorbeigeströmt.

Diese Perfektion ist es, die das technische Wunderwerk auch 100 Jahre nach Baubeginn noch in nahezu unveränderter Form laufen lässt. Natürlich sind Steuerung und Elektrik auf dem neuesten Stand. Aber das Wasserschloss mit seiner Absperrtechnik, die Druckrohre – ja sogar die acht Turbinen sind noch im Originalzustand.

Auch Theodorus Reumschüssel, beim heutigen Kraftwerksbetreiber Uniper zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, ist beeindruckt von dieser „noblen alten Dame“. Ebenso wie die 100 000 Besucher, die hier jährlich vorbeikommen und sich vom Brummen der Generatoren beeindrucken lassen. Lediglich die Turbinensätze wurden einmal ausgetauscht. „Dabei kamen mit modernster Computersimulation beinahe die gleichen Schaufelräder wie 1918 heraus“, erzählt Reumschüssel fasziniert.

Faszinierend ist auch die Architektur der Gebäude, die zum Kraftwerk gehören, bis hin zu den Strommasten. Ihrem Titel als Industriedenkmal macht die alte Dame, die seit 1924 als Stromlieferantin am Netz ist, jedenfalls alle Ehre.

17 Arbeiter starben beim Bau des Werks

Das meiste ist noch im Originalzustand

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