Spanische Grippe: Der tödliche Höhepunkt

von Redaktion

Grippepandemien treten oft in zwei oder drei Wellen auf, so auch die Spanische Grippe. Die Seuche, deren erste Welle seit dem Frühjahr 1918 grassierte, ebbte im Frühsommer wieder ab. Doch eine zweite, viel aggressivere Welle setzte im Spätsommer ein – und fand ihren tödlichen Höhepunkt im November.

VON MANFRED VASOLD

München – Im Sommer 1918 war vielen Deutschen klar, dass der Krieg verloren war. Mit dem Zusammenbruch Bulgariens Ende September 1918 kam die Verteidigungsstellung Österreichs ins Wanken. Am 29. September 1918 verlangte General Erich Ludendorff, Deutschlands „heimlicher Diktator“, von der kaiserlichen Regierung die Eröffnung von Waffenstillstandsverhandlungen.

Einige Mediziner vertreten die Auffassung, der Erreger der nun folgenden zweiten Welle der Spanischen Grippe sei von einer mutierten Form des Virus verursacht worden. Irgendwann habe der Erreger eine Mutation durchlaufen und habe dann mit noch höherer Virulenz die zweite Welle der Pandemie verursacht. Der Schriftsteller Thomas Mann, ein Wahlmünchner, schenkte in seinen Tagebüchern dem Wetter mehr Aufmerksamkeit als der Seuche. „Warmes Sommerwetter“, trug er unter dem 16. September ein. Dann wurde es kälter.

Die zweite Grippewelle setzte ein, dieselbe Krankheit wie im Sommer, nicht einfach ein grippaler Infekt, sondern die echte Grippe, mit denselben Symptomen wie zuvor. Sie griff so rasch um sich, dass sie zumindest die deutschen Großstädte fast gleichzeitig heimsuchte, und nicht nur die deutschen: Eine Anzahl von Orten, die rund um den Globus verstreut lagen, registrierten die höchste Grippesterblichkeit in der Woche, die am 26. Oktober 1918 endete.

Diese zweite Grippewelle traf die bayerischen Städte sehr heftig. Die „Augsburger Allgemeine“ schrieb am 17. Oktober 1918: „Die Grippe in Augsburg bildete den Gegenstand eines längeren […] Referats [vonseiten der Schulbehörde]. Die Grippe hat namentlich in den unteren Klassen der Volksschulen starke Verbreitung gefunden und zwar sind in einzelnen Klassen bis zu fünfzig Prozent der Schüler erkrankt. Nach der Ansicht des Schulrats ist die Epidemie im Ansteigen begriffen.“ Oberbürgermeister von Wolfram hat den Eindruck, „daß selbst die Aerzte nicht wissen, was sie zu tun haben.“

In vielen großen Städten wurden im Oktober die Schulen eine Zeitlang geschlossen, nicht jedoch die Lichtspieltheater und andere öffentliche Stätten. Im Nu waren nicht nur die Großstädte betroffen, sondern auch kleinere Städte und das flache Land. Überall im Deutschen Reich herrschte mit Blick auf das sehnsüchtig erhoffte Kriegsende eine gewaltige Anspannung. Unter dem 20. Oktober 1918 schrieb der Heidelberger Professor für Mittelalterliche Geschichte Karl Hampe in sein Tagebuch: „Die städtische Bevölkerung steht gegenwärtig noch mehr unter dem Eindruck der bösartigen Grippe als unter dem der großen Niederlagen.“

Im Vordergrund standen jetzt nicht mehr die Kämpfe und die Verhandlungen mit den USA, sondern die Seuche. Nach vier Jahren Krieg fehlte es selbst in den Großstädten an Fahrzeugen, die die Ärzte zum Krankenbesuch dringend benötigten. Überall wurden nur die besonders schweren Fälle in Kliniken eingewiesen, in München vor allem ins Schwabinger Krankenhaus. Dort stürzte sich ein grippekranker Bäckerlehrling im Fieberwahn aus dem Fenster, er war auf der Stelle tot.

Naturgemäß waren genau die Bevölkerungsschichten häufiger von der Grippe befallen, die ständig mit vielen Menschen verkehren mussten. Viele Straßenbahner waren jetzt grippekrank, und die Straßenbahndirektion München sah sich gezwungen, weitere Kräfte einzusetzen, damit der Fahrbetrieb aufrechterhalten werden konnte. Der Münchner Magistrat beschloss außerdem, 4200 Mark für die Anstellung weiterer Leichenfrauen zu bewilligen.

Die Grippesterblichkeit war im Deutschen Reich mit knapp fünf Promille eher niedrig. München zählte bei Kriegsende 603 000 Bewohner. In der Zivilbevölkerung waren während des Weltkrieges stets weniger Frauen gestorben als Männer, die Zahl der weiblichen Toten belief sich auf zwischen 4523 (1915) und 4936 (1917). Im letzten Kriegsjahr, 1918, schnellte diese Zahl auf 6094 hoch, und auch in den beiden Folgejahren starben hier Jahr für Jahr mehr als 5000 Frauen. Insgesamt dürften in München mehr als 3000 Zivilpersonen dieser Seuche erlegen sein, rund fünf Promille der Zivilbevölkerung.

Die Grippe tötete vor allem Jüngere, auch vermehrt Säuglinge. Selbst unter den Kindern vom zweiten bis zum zehnten Lebensjahr war der Anstieg der Sterblichkeit deutlich, um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr: Je älter die Menschen waren, desto geringer war jetzt der Anstieg der Sterblichkeit.

Die Zahl der an der Grippe in Bayern Verstorbenen wird im „Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Bayern“ folgendermaßen angegeben: 1918 starben 20 321 bayerische Zivilisten unter der Todesursache ‚Grippe’ und weitere 4424 im folgenden Jahr. Allein unter der Todesursache ‚Grippe’ starben also in Bayern in beiden Jahren zusammen 24 745 Menschen.

Aber nicht nur sie waren Grippetote im eigentlichen Sinne: Wenn ein Kranker an einer Lungenentzündung starb, die einer Grippeerkrankung gefolgt war, dann konnte der Leichenbeschauer ohne weiteres eintragen: Pneumonie. Man wird also auch sehr viele der Toten, die unter der Todesursache ‚Pneumonie’ registriert wurden, zu den Grippetoten zählen müssen. An Lungenentzündung starben in Bayern vor 1918 meist 8000 bis 8500 Personen pro Jahr; aber 1918 waren es 13 711 Personen, also etwa 5000 Personen mehr.

Die Influenzapandemie von 1918/19 raffte allein in Bayern weit mehr als 30 000 Menschen hinweg, bei einer Bevölkerung von gut sieben Millionen (1918/19) vermutlich knapp fünf Promille. Die Grippe, diese hochansteckende Infektionskrankheit, befiel aber nicht nur die Region Süddeutschland, sie befiel das ganze Land. In Berlin erkrankte der neue Reichskanzler, Prinz Max von Baden, er musste seit dem 24. Oktober das Bett hüten, was seine Arbeit stark beeinträchtigte.

In den letzten Oktobertagen 1918 erreichte die Grippe-Sterblichkeit ihren Höhepunkt. Zwei Wochen später kam es in München zum Umsturz. „Zu den vielen Faktoren, die den Boden für einen grundlegenden Wandel bereit machen und die jede Widerstandskraft gegen eine Umwälzung schwächen, gehört ohne Zweifel auch die Grippeepidemie, von der Bayern in diesen Wochen heimgesucht wird“, urteilte der bayerische Historiker Heinrich Hillmayr. Man könnte die Seuche als den letzten Tropfen betrachten, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Artikel 2 von 4