München – Ulla Schmidt hat eine Priorität: Die ehemalige Gesundheitsministerin (SPD) kämpft als Vorsitzende der Lebenshilfe Deutschland dafür, dass Menschen mit Behinderung, die unter Betreuung stehen, die Wahl haben. Am Freitag, erzählt sie, hat sich der Arbeitskreis in der Koalition darauf verständigt, noch dieses Jahr einen Gesetzentwurf einzubringen.
Das „Wahlrecht für alle“ stand schon im letzten Koalitionsvertrag, trotzdem dürfen in Deutschland nicht alle wählen. Warum?
Die Gründe für den Wahlausschluss liegen im Entmündigungsrecht, das bis 1992 gegolten hat. Da hieß es: Wer entmündigt ist, kann auch nicht wählen. Darauf folgte das Betreuungsrecht. Die Regierung Kohl hat festgelegt, dass ein Mensch, der unter umfassender Betreuung steht und nichts alleine ausüben kann, im Grunde auch nicht wählen kann. Wir haben im Jahr 2000 den Übergang von der Fürsorge zur Teilhabe geschafft, dann gab es die Behindertenrechtskonvention, wir haben Artikel 3 ergänzt: dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. So hat sich ja erst die Diskussion über die Wahlrechtsausschlüsse ergeben. Ich hoffe, dass wir jetzt so weit sind, endlich zu einer vernünftigen Regelung zu kommen.
Wie erklärt man einem Menschen, der wählen will, dass er nicht darf?
Das kann man nicht erklären. Das ist ungerecht, und wir werden weiter dafür kämpfen, dass Menschen mit umfassender Betreuung bei allen Wahlen wählen dürfen: bei Kommunalwahlen genauso wie bei der Bundestags- oder bei der Europawahl.
Mit welchem Argument überzeugen Sie Gegner?
Wenn wir eine Wahlpflicht in Deutschland hätten, dann müsste man Menschen, die auch mit Assistenz nicht wählen können, von dieser Pflicht befreien können. Es ist aber umgekehrt: Wir haben ein Wahlrecht, und heutzutage verzichten leider viel zu viele Menschen darauf, dieses Recht wahrzunehmen. Ich wüsste kein Argument, warum ausgerechnet die 80 000, die jetzt nicht wählen dürfen und von denen vielleicht auch nur 10 000 oder 20 000 wählen gehen wollen, dieses Recht nicht haben sollten. Wer sehr schwer beeinträchtigt ist, hat doch gar nicht den Wunsch, wählen zu gehen. Da kommt der Wahlschein an, wie bei anderen, die nicht wählen – und man geht einfach nicht hin.
Und wie begegnen Sie dem Gegenargument, dass durch das Wahlrecht für Menschen, die unter Betreuung stehen, mehr Manipulation möglich sei?
Ich wüsste nicht, warum es dadurch mehr Manipulation geben soll. Man kann doch nicht den Betreuern unterstellen, dass sie unbedingt wollen, dass Menschen wählen, die gar nicht wählen wollen oder können. Niemand darf für einen anderen wählen, niemand darf einen anderen beeinflussen. Darum ist eine Ergänzung des Bundeswahlgesetzes geplant, die besagt, dass das auch für Betreuer gilt. Es muss der Wille des Einzelnen sein, wählen zu gehen – und es muss seine eigene Entscheidung sein.
Das Frauenwahlrecht gibt es seit 100 Jahren. Wäre ein „Wahlrecht für alle“ von vergleichbarer Bedeutung?
Es ist auf jeden Fall ein Stück mehr Demokratie. Wenn man das Wahlrecht zurückverfolgt, durften erst nur die Adligen wählen, weil die anderen vermeintlich nicht die nötige Reife dazu hatten. Dann durften die Bürger wählen, es kamen die Arbeiter dazu. Bis 1918 hat man den Frauen unterstellt, dass sie keine Wahlentscheidung treffen können. Diese Argumente setzen sich bis heute fort: Ist die nötige Verstandesreife da, dass man sein Wahlrecht ausüben kann? Darüber kann man streiten. Aber wenn man schon darüber redet, muss man sich fragen: Wo fängt man an und wo hört man auf? Man kann nur sagen: Ein Mensch, der das Recht hat zu wählen – und das muss jeder Bürger in unserem Land haben –, der muss selbst entscheiden, ob er wählen geht und wen er wählen will. Dieses Recht muss man auch Menschen zugestehen, die unter umfassender Betreuung sind.
Wagen Sie eine Prognose: Werden bei der Europawahl Menschen mit Betreuung wählen dürfen?
Es wird gerade geprüft, ob es zur Europawahl noch zu schaffen ist. Die Frage ist, ob wir damit nicht in ein laufendes Verfahren eingreifen, wenn die Melderegister bereits erstellt sind. Es soll und wird aber für alle Wahlen gelten. Interview: Kathrin Brack