Kampf um das Wahlrecht für alle

von Redaktion

Mit Vollendung des 18. Lebensjahrs hat jeder in Deutschland das Wahlrecht. Zumindest in der Theorie. Über 80 000 Menschen sind von vielen Wahlen ausgeschlossen, weil sie wegen einer Behinderung unter Betreuung stehen. Das soll sich ändern – möglichst noch dieses Jahr.

VON THOMAS BENEDIKT

München – In wenigen Monaten sind Millionen Deutsche aufgerufen, ihre Stimme bei der Europawahl abzugeben. Wie viele den Gang zur Urne tatsächlich antreten, ist ungewiss. Bei der Wahl 2014 lag die Wahlbeteiligung gerade einmal bei 43,09 Prozent. Das Interesse an der Wahl war überschaubar. Es gibt aber Menschen in diesem Land, die sich gerne an der Wahl beteiligen würden, nur: Sie dürfen nicht. Noch nicht.

In Deutschland sind aktuell zirka 84 500 Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ein kleiner Teil von ungefähr 3000 Personen, weil sie vor Gericht bei der Verhandlung einer Straftat für schuldunfähig erklärt wurden. Die übrigen 81 500, weil sie wegen einer Behinderung „in allen Angelegenheiten unter Betreuung“ stehen, wie es im juristische Fachjargon heißt. „In allen Angelegenheiten“, das sind in der Regel die drei Kernbereiche Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Vermögensfürsorge. Wer aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung nicht in der Lage ist, in diesen Fragen eigenständig zu handeln, bekommt dafür einen Betreuer zugewiesen. Das können Familienmitglieder, Freunde und offizielle Betreuungsvereine sein.

Selbst das bedeutet noch nicht den Wahlausschluss. Erst, wenn explizit die Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet wird, entfällt auch das Wahlrecht. Diese Entscheidung obliegt einem Betreuungsrichter, der sein Urteil anhand eines individuellen, ärztlichen Gutachtens fällt, das sowohl die konkreten Umstände, wie auch die psychologische Verfassung und das soziale Umfeld des Betroffenen überprüft.

In den einzelnen Bundesländern wird dies höchst unterschiedlich gehandhabt. In Bayern sind besonders viele Menschen von einem Wahlausschluss betroffen: 19 700 dürfen nicht wählen, fast ein Viertel aller deutschen Betroffenen. Die Gefahr, das Wahlrecht zu verlieren, ist im Freistaat zwölfmal höher als in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg.

Doch nicht nur darin unterscheiden sich die Bundesländer. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben auch Menschen unter Betreuung in allen Angelegenheiten seit 2016 das Recht, bei Landtags- und Kommunalwahlen ihre Stimme abzugeben. In Bayern konnte sich die Landesregierung aber noch nicht dazu durchringen – auch weil das Thema durchaus kontrovers diskutiert wird. So gibt es in Teilen der CSU Zweifel, ob diese Menschen überhaupt in der Lage seien, zu wählen.

Verena Bentele, VDK-Präsidentin und bis 2018 Beauftragte für die Belange für Menschen mit Behinderung, sieht das anders: „Menschen, die gut informiert werden, können auch eine Wahlentscheidung treffen.“ Sie trifft regelmäßig auf die Betroffenen. Die seien „wütend und sehr traurig“ über die Situation. „Sie sind politisch interessiert, verfolgen politische Diskussionen, lernen Politiker kennen und wollen dann natürlich auch ihre Stimme abgeben. Sie sollen wie alle Menschen in der Demokratie auch die freie Entscheidung haben, ob sie sich einbringen wollen, oder nicht.“

Inzwischen, sagt Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (siehe Interview unten), habe sich der Arbeitskreis der Koalition darauf verständigt, noch dieses Jahr ein Gesetz in den Bundestag einbringen zu wollen. „Diese Woche wird das Thema in den Fraktionen besprochen.“ Für Bentele ist dies nur ein erster Schritt: „Ich sehe das Ziel erst erreicht, wenn das Bundeswahlgesetz tatsächlich geändert ist und die Menschen mit rechtlicher Betreuung bei der nächsten Wahl das Recht haben, daran teilzunehmen.“

Das Thema hätte auf Bundesebene längst geklärt sein können: Union und SPD waren sich schon in der vergangenen Legislaturperiode einig, ein inklusives Wahlrecht auf den Weg zu bringen – dazu hatte sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenkonvention 2016 verpflichtet. Die Umsetzung scheiterte aber am Wunsch der Union, nicht nur die Fragen zum Behindertenwahlrecht, sondern auch die Themen Überhangsmandate und Legislaturperioden in einem Gesamtpaket zu verabschieden, eine Einigung der Parteien blieb jedoch aus.

In Bayern ist es besonders streng

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