Machtprobe am Schwarzen Meer

von Redaktion

Warum eskaliert der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gerade jetzt? Der Westen steht vor einer gigantischen Herausforderung, denn Wladimir Putin testet abermals, wie groß seine Macht ist.

VON BORIS REITSCHUSTER

Moskau/Kiew – Der unrasierte Mann in Uniform hat seine Augen weit aufgerissen. Er wirkt erschöpft und verängstigt. „Man hat uns gesagt, wir sollen in die Straße von Kertsch fahren“, sagt der ukrainische Marinesoldat durch einen Spalt in dem Holzkäfig, in dem er in einem russischen Gericht sitzt – und durch den ihn das Moskauer Staatsfernsehen befragt. Die Ukrainer seien bewaffnet gewesen, fügt der Sprecher in den Abendnachrichten im Staatssender „Rossija 1“ hinzu. Auf dem Fernsehschirm werden Waffen eingeblendet.

Flüchtige Zuschauer können so zu dem Schluss kommen, es sei etwas Ungewöhnliches, dass Kriegsschiffe Waffen mitführen. Denn auf einem Kriegsschiff waren die Ukrainer unterwegs, als am Sonntag in der Meerenge von Kertsch russische Sondereinsatzkommandos an Bord stürmten und sie gefangen nahmen. Die russischen TV-Sender beteuern, Moskau habe damit nur auf eine gezielte Provokation der Ukraine reagiert: Ein „Hasardspiel“, mit dem der ukrainische Staatschef Petro Poroschenko vor den Präsidentschaftswahlen Stimmung mache. Das Außenministerium in Moskau sieht eine „amerikanisch-europäische Verschwörung“ als Vorwand für neue Sanktionen gegen Russland.

Poroschenko wiederum sprach von einem militärischen Angriff auf die Ukraine und verhängte für einen Monat das Kriegsrecht: Russland habe seine Truppen an der Grenze verdreifacht, ein „vollständiger Krieg“ drohe. Der Staatschef macht Moskau genau die gleichen Vorwürfe, die dort gegen ihn erhoben werden: Wladimir Putin wolle mit einer Provokation von den Problemen im eigenen Land ablenken.

Der militärische Zusammenstoß ist der jüngste Höhepunkt in einem Konflikt, in dem es um Grundsätzliches geht. Putin habe zwar akzeptiert, dass frühere Warschauer-Pakt-Staaten und das Baltikum zur Nato gehören, glaubt Dmitrij Gudkow, früherer Vizechef des Sicherheitsausschusses der Duma: „Aber er sieht die anderen Staaten der Ex-Sowjetunion als sein Einflussgebiet und dachte früher, der Westen akzeptiere das.“ Als dann in Kiew nach prowestlichen Protesten 2014 die Regierung stürzte, sei Putin geradezu in Hysterie geraten, so der Kreml-Kritiker: Aus Angst vor einem endgültigen West-Schwenk des „Bruderlandes“ habe er sich zum Einmarsch entschlossen.

Im Februar 2014 besetzten russische Sondereinsatztruppen ohne Hoheitsabzeichen die Krim. Nachdem Putin erst bestritt, dass es seine Männer waren, zeichnete er später viele von ihnen mit Orden aus. Er annektierte die Halbinsel – laut UNO völkerrechtswidrig. Nach Moskauer Lesart wurde die urrussische Krim 1954 von dem Ukrainer Chruschtschow aus einer Wodka-Laune heraus von der russischen an die ukrainische Teilrepublik verschenkt. Dabei war Chruschtschow weder Ukrainer noch 1954 schon Alleinherrscher.

Nach der Krim-Annexion wiederholte sich ein ähnliches Szenario in der wirtschaftlich wichtigen Ost-ukraine. Auch dort agierten russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen – was Putin lange bestritt und später zugab. Es kam zu einem regionalen Krieg, in dem bis heute fast täglich Menschen sterben, der mehr als 10 000 Todesopfer forderte und mehr als zwei Millionen Menschen zur Flucht zwang.

In einem nach dem Verhandlungsort Minsk benannten Abkommen vereinbarten die Konfliktparteien im Februar 2015 unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs einen Waffenstillstand und Schritte zum Frieden. An der Umsetzung hapert es bis heute. Kritiker in Kiew werfen ihrer Regierung vor, sie habe sich damals von Moskau über den Tisch ziehen lassen. Allerdings war die Ukraine damals militärisch stark unterlegen und hatte kaum Handlungsspielraum. Inzwischen konnte das Land aufrüsten. Ein Vormarsch russischer Truppen tief in die Ukraine wäre zwar militärisch weiter möglich, aber „im Gegensatz zu 2014 für Moskau kein Spaziergang mehr, sondern nur mit einem massiven Krieg mit massiven Verlusten möglich, die Putin dann nicht mehr wie die bisherigen Todesopfer verheimlichen könne“, so die Einschätzung eines westlichen OSZE-Beobachters, der anonym bleiben möchte.

Die Ukraine und Russland sind traditionell eng vernetzt; es gibt kaum eine Familie in beiden Ländern, die nicht Verbindungen über die Grenze hätte. Die meisten Ukrainer verstehen gut Russisch, für viele ist es sogar die Muttersprache. Umso schmerzhafter ist der schwelende Bruderkrieg. Teilweise verlaufen die Frontlinien mitten durch Familien. Selbst Präsident Poroschenko betrieb lange noch eine Schokoladenfabrik in dem Land, das de facto Krieg gegen ihn führte – eine von zahlreichen Absurditäten in dem Konflikt.

Die neueste Zuspitzung ist deshalb so gefährlich, weil sowohl Poroschenko als auch Putin mit einer Eskalation von massiven wirtschaftlichen Problemen ablenken können. Was genau in der Meerenge passierte, ist bislang kaum zu klären. Fakt ist, dass zwei russische Militärschiffe ein ukrainisches abdrängten und es dann rammten. Und dass später die Russen drei ukrainische Schiffe kaperten. Laut Kiew wurden dabei sechs Ukrainer verletzt, laut Moskau drei. Die Meerenge ist die einzige Verbindung für Schiffe zwischen den Häfen in der Südost- und Südwestukraine. Seit der Annexion der Krim befindet sie sich faktisch in russischer Hand. Moskau beruft sich darauf, die ukrainischen Schiffe hätten seine Staatsgrenze verletzt. Aus Sicht der Ukraine und der UNO gehört die Krim aber weiter zur Ukraine. Zudem steht in einem bis heute verbindlichen Abkommen zwischen Russland und der Ukraine von 2003: Alle Schiffe beider Länder „haben im Asowschen Meer und in der Straße von Kertsch freie Fahrt.“ Auf dieses Abkommen beriefen sich auch die ukrainischen Schiffe am Sonntag.

Putin gehe es mit dem Muskelspiel an der Meerenge um eine Machtprobe mit dem Westen, er wolle testen, wie weit er gehen könne, glaubt Wladimir Milow, Kreml-Kritiker und früher Vize-Gasminister. Wenn der Westen nicht entschlossen reagiere, wäre das fatal: „Putin versucht de facto, durch ein paar Schüsse dem Asowschen Meer seinen Status als internationales Gewässer zu nehmen und es Russland einzuverleiben.“

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