Mein Leben mit dem Virus

von Redaktion

In den 1990er-Jahren galt HIV als Todesurteil. Heute haben Betroffene die gleiche Lebenserwartung wie Gesunde – dank moderner Medizin. Doch eines ist geblieben: viele Vorurteile. Hier ist die Geschichte von Angelika Timmer. Ein Denkanstoß zum Welt-Aids-Tag an diesem Samstag.

VON BARBARA NAZAREWSKA

München – Es ist kurz vor Weihnachten, als Angelika Timmer erfährt: Sie hat sich infiziert. Mit HIV. Dem Immunschwächevirus. Ein Zufallsbefund nach einer harmlosen OP im Dezember 1990 – und damals eine Schocknachricht. Selbst ihr Arzt will nicht so recht an das Ergebnis glauben. „Der Test ist bestimmt falsch-positiv“, sagt er. „Jetzt feiern Sie mal Weihnachten, dann kommen Sie im Januar wieder – und wir machen einen neuen. Der fällt bestimmt negativ aus.“

Doch Angelika Timmer spürt: Dieses Testergebnis stimmt, der Arzt irrt. Sie nickt stumm, steht auf, verlässt die Praxis. Im Treppenhaus stürzt sie, verstaucht sich den Knöchel. Sie ist völlig benommen. Irgendwann ruft Angelika Timmer ihren Freund an. „Ich war damals frisch verliebt!“ Sie heult ins Telefon. Er sagt nur: „Wir schaffen das.“ Kein Vorwurf, dass sie ihn womöglich infiziert haben könnte – erst später wird sich herausstellen, dass er nicht HIV-positiv ist. Kurz darauf beschließt Angelika Timmer: „Selbst wenn alle sterben. Ich sterbe nicht!“

Heute, genau 28 Jahre später, sagt sie: „In den 1990er-Jahren war HIV mehr oder minder ein Todesurteil.“ Inzwischen sei es eine chronische Infektion, beherrschbar dank moderner Medizin. Aber: „Die Stigmatisierung ist geblieben. Und sie macht den Betroffenen schwer zu schaffen.“ Angelika Timmer ist mittlerweile 56, hat einen Studienabschluss in Sozialpädagogik und arbeitet beim FrauenGesundheitsZentrum in München. Dort klärt sie über HIV und Aids auf. Das ist auch bitter nötig – viele neue Erkenntnisse wollen nicht in die Köpfe der Menschen.

Ein Beispiel: Laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zögerte im vergangenen Jahr immer noch fast jeder Siebte, HIV-positive Menschen zu umarmen. Dabei besteht bei Umarmungen kein Infektionsrisiko, es bestand noch nie. Und selbst ungeschützter Geschlechtsverkehr ist heute unbedenklich – sofern HIV-Positive Medikamente nehmen, um die Virusmenge im Blut zu unterdrücken.

Uwe Koppe, HIV-Experte am Robert-Koch-Institut (RKI), zitiert sogar Studien mit hetero- und homosexuellen Paaren, in denen ein Partner HIV-positiv und der andere nicht infiziert war. „Unter wirksamer Therapie kam es bisher zu keiner Übertragung“, sagt er. „Das ist eine ganz tolle Botschaft!“

Auch Holger Wicht von der Deutschen Aids-Hilfe sagt: „Die meisten Menschen empfinden es als belastend zu wissen, dass sie andere mit HIV anstecken können. Und genau deswegen sollen möglichst viele erfahren, dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist.“ Gleichwohl leben in Deutschland geschätzt rund 11 400 Menschen mit HIV – ohne es zu wissen. Sie können andere anstecken.

Angelika Timmer ahnt vor dem positiven Testergebnis nichts von der Infektion. Als sie davon erfährt, gilt eine ihrer größten Ängste dem neuen Partner: Hat sie ihn etwa angesteckt? Gott sei Dank nicht. Sie selbst hatte sich bei ihrem Ex-Freund infiziert. Auch er soll nicht gewusst haben, dass er HIV-positiv war.

Vor allem am Anfang ist es keine einfache Zeit für Angelika Timmer, selbst wenn sie bis heute sagt: „Ich hatte noch Glück!“ Die wenigen Freunde, die sie und ihr damaliger Partner einweihen, laufen nicht schreiend davon. Und auch die Eltern, denen sie erst Jahre später sagt, dass sie HIV-positiv sei, sind für sie da. „Wieso hast du denn nicht früher etwas gesagt?“, fragen sie nur. Angelika Timmer wollte sie eben schützen.

Vor allem aber musste sie selbst erst mal klarkommen. Schnell versucht sie, ihr „altes“ Leben wiederaufzunehmen. Körperlich geht es ihr ja gut, doch innerlich ist sie „gebeutelt“. Irgendwann zerbricht die Beziehung. „Es war einfach alles zu viel“, sagt sie.

Lange Zeit weigert sich Angelika Timmer Tabletten zu nehmen: Sie will „normal weiterleben“. Zudem ist die Therapie in den 1990er-Jahren mit schweren Nebenwirkungen verbunden. 1995, also fünf Jahre nachdem sie erfahren hat, dass sie HIV-positiv ist, schluckt sie doch die ersten Medikamente. Riesige Pillen, die sie kaum herunterbekommt – und die sie förmlich ans Bett fesseln. „Jedes Mal, wenn ich mich aufrichten wollte, wurde mir schlecht. Ich konnte nicht aufstehen. Ich konnte nichts. Es war schrecklich.“ Monatelang geht es ihr richtig mies.

Denn Angelika Timmers Immunsystem ist zwischenzeitlich massiv geschwächt: Die Zahl der sogenannten T-Helferzellen im Blut ist heruntergerauscht, die Konzentration liegt bei 30; breitet sich HIV im Körper aus, sinkt diese Zahl rapide. Zum Vergleich: Gesunde haben einen Wert zwischen 600 und 1200.

Heute nimmt Angelika Timmer nur eine Tablette täglich – ohne Nebenwirkungen. Allerdings: Eine sogenannte Neuropathie ist von damals geblieben. „HIV schädigt eben die Nerven“, sagt sie. Dennoch: Sie hadert nicht mit ihrem Schicksal.

Geholfen hat ihr dabei eine Selbsthilfegruppe, die es schon seit 25 Jahren am FrauenGesundheitsZentrum gibt. „Positive Frauen“, so nennt sich das Projekt. Angelika Timmer kommt Anfang 1996 dazu. „Ich wollte damals mit Menschen reden, denen es genauso geht wie mir“, sagt sie. Sie habe nach „Halt“ gesucht, nach „Solidarität“.

Bis heute ist sie dabei – und bekommt hautnah mit, was auch alle anderen bewegt. Zum Beispiel die Sache mit der Partnersuche. Ja, Angelika Timmer kommt gut allein klar. Aber manchmal wünscht sie sich einen Partner. Nur: Wann sagt sie, dass sie HIV-positiv ist? „Sofort?“ Dann ist vielleicht die Chance vertan, sich unvoreingenommen kennenzulernen. „Also lieber später?“ Das könnte allerdings einem Vertrauensbruch gleichkommen, aus Sicht des Mannes. Es ist stets ein Balanceakt.

Früher hat Angelika Timmer auch mal daran gedacht, ein Baby zu bekommen. „Aber der richtige Mann war nicht dabei“, erzählt sie. Medizinisch ist für HIV-positive Frauen Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt heute nahezu unbedenklich – solange die Medikamente wirken. Sie haben allerdings mit anderen Problemen zu kämpfen: nämlich der Angst, dass ihr Kind stigmatisiert wird.

Angelika Timmer kennt viele Frauen, die zum Schutz des Kindes plötzlich nicht mehr offen mit ihrer Infektion umgehen, sich sogar Ausreden einfallen lassen, still vor sich hin leiden. Und sie fragt sich dann immer wieder, wenn sie das mitbekommt: „Muss das wirklich heute noch so sein? Müssen wir HIV-positiven Menschen Steine in den Weg legen – wider besseres Wissen?“

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