München – Die Internet-Bewertungen der Pizzeria Calabrone in den Riem-Arcaden in München sind wenig schmeichelhaft. „Bedienung unfreundlich, Wein schlecht und zu teuer, Essen mittelmäßig“, schreibt ein Kunde. Ein anderer schreibt: „Bei den Zutaten scheint an jeder Ecke gespart zu werden. Preis/Leistung echt panne.“ Wieder ein anderer Gast sagt: „Tolles Restaurant, die Nudelgerichte sind ein Traum.“
Die Meinungen der Kundschaft gehen weit auseinander. Die der Ermittlungsbehörden offensichtlich nicht. Die Pizzeria wurde laut Ermittlerkreisen gestern als Teil einer groß angelegten Razzia gegen Mitglieder der italienischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta durchsucht.
Die kalabrische ‘Ndrangheta gilt inzwischen als die mächtigste italienische Mafia-Organisation. Sie dominiert den Drogenschmuggel nach Europa, Spezialgebiet: Kokain. Experten beziffern ihren Umsatz mit kriminellen Geschäften auf 50 bis 100 Milliarden Euro im Jahr. Nach Angaben des FBI hat die ’Ndrangheta weltweit rund 6000 Mitglieder in 160 miteinander verbundenen Familien-Clans.
Die Durchsuchung in den Riem-Arcaden war nur ein Puzzle-Teil eines europaweiten Schlags gegen die Mafia, Deckname „Pollino“. In Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden sowie im südamerikanischen Surinam wurden 90 Tatverdächtige festgenommen, 4000 Kilo Kokain sowie 140 Kilogramm Ecstasy-Pillen beschlagnahmt. Das teilte die Europäische Justizbehörde Eurojust bei einer eigens einberufenen Pressekonferenz in Den Haag mit. „Heute haben wir eine klare Botschaft an kriminelle Vereinigungen in ganz Europa gesendet“, sagte der Vizechef von Eurojust, Filippo Spiezia. „Sie sind nicht die einzigen, die grenzüberschreitend arbeiten können.“
Allein in Deutschland wurden 14 Verdächtige in Gewahrsam genommen. Im Einsatz waren 240 Beamte des Bundeskriminalamts, 200 Polizisten der Bundespolizei, darunter Spezialkräfte der Antiterroreinheit GSG 9. Hinzu kommen hunderte Beamte der Landespolizeibehörden. Viele der Mafiosi wurden im Schlaf erwischt.
Auf die Spur der mutmaßlichen Mafia-Mitglieder sind die deutschen Ermittler durch den Fund von massenweise Kokain in einem präparierten Pferdetransporter gekommen. Der Transporter ist vor zwei Jahren im britischen Fährhafen Harwich sichergestellt worden. Den Berufskriminellen werden bisher mindestens 23 solcher Transporte von jeweils 80 Kilogramm Kokain aus den Niederlanden nach England zur Last gelegt. Das teilte die Kölner Polizei mit, die eine eigene geheime Ermittlergruppe ins Leben gerufen hat, Deckname „Falabella“.
Mutmaßlicher Haupttäter ist ein Gastwirt aus Pulheim bei Köln. Die Polizisten haben ihn gestern in aller Früh festgenommen. Der Besitzer einer Osteria soll an „Kokainhandel in sehr, sehr umfangreichem Maße“ beteiligt sein. Über Strohleute sollen die Mafiosi außerdem Computer, Autos und Büroeinrichtung erworben haben. Seit Ende 2017 stellten die Ermittler 166 Betrugsfälle mit einem Schaden von mindestens 1,3 Millionen Euro fest.
Neben der Pizzeria in den Riem-Arcaden gab es in München zwei weitere Durchsuchungen. In Bayern werden der ’Ndrangheta rund 90 Personen zugeordnet. Das Verbrechersyndikat ist hierarchisch gegliedert, die Mitglieder sind oft Blutsverwandte – was die Suche nach Kronzeugen immer wieder erschwert.
Im Freistaat sind Mitglieder der ’Ndrangheta hauptsächlich in und um München, in Augsburg und Nürnberg aktiv. Weitere Geschäftsfelder neben Drogenhandel sind laut des letzten bayerischen Verfassungsschutzberichts: Waffenhandel, Geldwäsche, Schutzgelderpressung, aber auch Müllentsorgung. Stützpunkte in Bayern gibt es seit den 1970er-Jahren. „Wir müssen bei den Ermittlungen immer neu ansetzen“, sagte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gestern. Dabei komme es auf internationale Zusammenarbeit an. Die italienischen Behörden seien in den letzten Jahren besser geworden. „Das spürt man“, sagt Herrmann.
Die ’Ndrangheta steht im Verdacht, einen Großteil des weltweiten Kokainhandels abzuwickeln – zumindest die großen Mengen. Vor Ort überlässt man das Geschäft gerne Clans oder Rockergruppen, berichtet Autor David Schraven, der im vergangenen Jahr ein Buch zur „Mafia in Deutschland“ veröffentlicht hat.
Deutschland gilt als Geldwäscheparadies. Vermögen der ’Ndrangheta sei wohl gezielt und reichlich in den deutschen Immobilienmarkt geflossen, hatte die Bundesregierung im Juni berichtet. Im vergangenen Jahr hatte der Gesetzgeber nach langem Zögern reagiert und die Möglichkeiten verbessert, illegal erworbenes Vermögen zu beschlagnahmen.
Lange wurde bezweifelt, dass Deutschland mehr ist als Drogenabsatzmarkt und Rückzugsgebiet für Mafiosi, denen es in ihrer Heimat zu brenzlig geworden ist. 2007 verstummten die Zweifler, als in Duisburg vor dem Restaurant „Da Bruno“ sechs Menschen im Kugelhagel starben. Auch dahinter steckte die ’Ndrangheta.
Die Fehde zweier Mafia-Familien hatte in Duisburg einen blutigen Höhepunkt erreicht. Ein Streit zwischen dem Pelle-Vottari-Clan und dem Strangio-Nirta-Clan war der Auslöser. Das Blutbad war zugleich eine Art Betriebsunfall für die Mafia, die heutzutage darauf achtet, unsichtbar zu bleiben. Ist einfach besser fürs Geschäft. mit dpa