Prien/Neustrelitz – Kürzlich hat Kerstin Haferkorn, die Schulleiterin der Chiemsee Realschule in Prien, von einem Schüler eine kleine Vase geschenkt bekommen. Der Schüler hat sie im Unterricht am Computer konstruiert – und am schuleigenen 3D-Drucker ausgedruckt. Kein Scherz, die Realschule im Landkreis Rosenheim hat sogar noch einen zweiten 3D-Drucker. Schöne, neue Lernwelt. „Wir sind unglaublich digital“, sagt Schulleiterin Haferkorn und erzählt, was in Prien noch alles zur Grundausstattung gehört.
Jedes Klassenzimmer, sagt sie, hat Internetanschluss und einen eigenen Rechner für den Lehrer. Es gibt interaktive Whiteboards, Dolby Surround-Ausstattung, zwei Computerräume mit jeweils 32 Rechnern, Roboter, die programmiert werden. „Ich hab bestimmt noch was vergessen“, sagt Haferkorn. Ach ja: Mit den Eltern kommunizieren die Lehrer ganz selbstverständlich per E-Mail.
Während die Politik derzeit darum streitet, auf welchem Weg alle Schüler in Deutschland bald digital unterrichtet werden könnten, gehören in Prien digitale Hilfsmittel längst zum Alltag. Aber nicht nur im vergleichsweise reichen Oberbayern, auch im tiefsten Mecklenburg-Vorpommern ist das Klassenzimmer der Zukunft längst Realität. Englisch-Kurs, 12. Jahrgangsstufe im Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Alle Jugendlichen hier haben ihren eigenen Tabletcomputer, mit dem sie sich interaktiv am Unterricht beteiligen können. Englischlehrer Jasin Peña Cabrera geht mit seinem iPad auf und ab. 14 Schüler sitzen an drei großen, runden Tischen. Sie wirken sehr aufmerksam. Die Blicke gehen abwechselnd zum Lehrer und auf die eigenen Bildschirme.
Cabrera ruft Bilder und kleine Texte auf, die zeitgleich auf den Geräten der Schüler erscheinen. „What do you want to choose?“, fragt der Lehrer und ruft Bilder von Gerichten zum Essen auf. Pizza, Salat, Hamburger. Was würdet ihr auswählen? „Definitely the pizza“, sagt die 18-jährige Henriette. Auf jeden Fall die Pizza. Andere mögen die anderen Sachen lieber, es wird ein bisschen diskutiert. Dann lässt Cabrera plötzlich Bilder von Babys auf den Tablets erscheinen: kleine Mädchen in Rosa, kleine Buben in Blau. Er fragt, wer später einmal Kinder haben möchte. Die Schülerinnen und Schüler grinsen.
In der nächsten Sekunde ruft der Lehrer Bilder von Baby-Augen, Baby-Haaren und anderem auf. Die Frage dazu: Welche Augen- oder Haarfarbe sich die Schüler für ihr Baby wünschen. Einige antworten spontan, andere werden aufgerufen. Dann die Frage des Lehrers: „Is it possible to do that, to ,order‘ a baby like that?“ („Ist es möglich, ein Baby auf diese Weise zu bestellen?“). Schon ist der Lehrer beim Thema Genmanipulation und „Designer-Babys“. Eine Diskussion setzt ein.
Der Lehrer startet wenig später eine spontane Umfrage. Die Schüler drücken auf Antwortoptionen auf den Tablets. Die anonyme Auswertung erfolgt sekundenschnell. Dazu erneut Bilder, aber auch kleine Texte und Kernsätze. Die Schüler diskutieren inzwischen über den Skandal um die angeblich ersten genetisch veränderten Babys.
So oder so ähnlich kann das ablaufen, worüber die Politik, aber auch viele Eltern, Lehrer und Schüler derzeit heftig diskutieren: Unterricht mit digitalen Mitteln. „Digitalisierung bringt die Urform der Didaktik wieder nach vorne“, sagt der Rektor des Carolinums, Henry Tesch. Die Bundesregierung will, dass die Schulen in Deutschland ab Anfang 2019 mit fünf Milliarden Euro vom Bund mit digitaler Technik wie WLAN und Tablets ausgestattet werden.
Doch das Problem ist: Bildung ist Ländersache, der Bund hat hier weder etwas zu sagen, noch darf er die Schulen grundsätzlich mitfinanzieren. Deswegen will die Koalition mithilfe von FDP und Grünen das Grundgesetz ändern – was vielerorts zu einem Aufschrei geführt hat (siehe unten). Manche haben schon das Ende des Bildungsföderalismus ausgerufen.
Doch auch die Länder müssen mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Zuerst machten Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen ihre Ablehnung deutlich. Dann kamen noch mehrere andere Länder mit Kritik. Also wird wohl der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat angerufen – Ausgang offen.
Rektor Tesch findet den Digitalpakt überfällig. Andere Länder seien schon viel weiter, deshalb müsse es jetzt dringend losgehen. „Dann könnte es Deutschland schaffen, hinten am Zug noch mit dem letzten Wagen anzudocken.“ Tesch hat seine Schule in jahrelangem Engagement und gegen reichlich Widerstände, wie er erzählt, mit digitalisiert.
Kerstin Haferkorn kennt diese Probleme nicht. „Von der Ausstattung her können wir uns in keinster Weise beklagen“, sagt die Priener Schulleiterin. Sie wüsste gar nicht so genau, welche großen Anschaffungen sie beantragen würde, wenn der Digitalpakt bald ein paar Milliarden Euro über Deutschlands Schulen regnen lässt. Aber eines weiß sie: „Für mich ist es kein Allheilmittel, jedem Schüler ein Tablet in die Hand zu drücken.“
Denn das geht in der Diskussion ein bisschen unter. Schule ist halt ein bisschen mehr als WLAN und Touch-screen.