Mossul – Großmutter Kawthar, 54, ist Ihams Ein und Alles. Kaum einen Schritt weicht der Bub, 6, von ihrer Seite, kuschelt sich ängstlich an seine Oma, seine Bibiti, wie er sie liebevoll nennt. Sein Vater wurde während der Häuserkämpfe in Mossul 2017 erschossen, seine Mutter verbrannte in den Trümmern ihres Hauses.
Iham spricht kaum ein Wort. Was soll der Bub auch sagen. Dass er traurig ist? Dass er nachts nur schlafen kann, wenn ihm seine Bibiti beide Hände hält? Ein Blick in Ihams braune Augen reicht, um seine Trauer, seine Angst zu spüren. Iham lebt mit seiner Großmutter, einer Tante und deren Kindern in einer gemieteten Wohnung in der zerstörten Altstadt von Mossul. Jeden Tag kommt er mit seiner Oma in die Ruine nahe der Nabi Younis Moschee. Er besitzt nicht viel. Ein paar Flipflops, zwei T-Shirts, zwei Jeans.
Für ihn möchte Kawthar das Zuhause wieder aufbauen. Iham weiß das und will helfen. Wenn er in den Trümmer einen geeigneten Stein findet, bringt er ihn seiner Bibiti, damit sie am Wiederaufbau des Gebäudes weitermachen können. Wann die beiden in das Haus zurückkehren können, weiß auch die Oma nicht. „Wir müssen Geduld haben, immerhin haben wir schon wieder Rohre und Ziegelsteine für die Außenmauern.“ Auch die alte Haustür existiert noch. Gesichert mit einem Vorhängeschloss. „Damit jeder sieht, dass dieses Haus nicht leer steht, dass sich der Besitzer darum kümmert“, sagt sie.
Auch wenn Dach und Innenmauern fehlen, es ist ein Zuhause. Jeden Tag geht Iham mit seinen Cousinen in die Schule. Es ist eine Schule, die von Unicef im Herbst wiedereröffnet wurde. Iham mag den Unterricht, hört eifrig zu, wenn die Lehrerin die Buchstaben vorstellt.
„Das ist mehr, als ich gehofft habe“, sagt die 54-jährige Kawthar. „Am Anfang dachte ich, Iham geht sicher nicht in die Schule, weil er da ja ein paar Stunden ohne mich sein muss.“ Inzwischen hat er sich daran gewöhnt, und weil ihn die Lehrerin einfach in Ruhe dasitzen lässt, ohne dass er viel sagen muss, geht er sogar richtig gerne. „Jetzt hoffe ich, dass er sich weiter so gut entwickelt, wieder mehr spricht und mit Hilfe vielleicht irgendwann auch all das Schlimme, dass er bisher erlebt hat, verarbeiten kann. Er ist ein guter Junge.“
Der Weg zur Schule dauert nur ein paar Minuten. Trotzdem sorgt sich Kawthar jedes Mal, ob den Kindern etwas passiert. Es ist erst ein paar Tage her, da kamen die Kinder ganz aufgelöst vom Spielen aus der Nebenstraße zurück. Sie hatten die Leiche eines IS-Kämpfers entdeckt. Keiner wollte sich um den Toten kümmern. Die Polizei sorgte schließlich dafür, dass der Leichnam verbrannt wurde.
„Ist das eine Kindheit, die ihr euch für eure Kinder wünschen würdet?“, fragt Kawthar. Bibiti steigen die Tränen in die Augen. Dann richtet sie ihren gebeugten Rücken auf und streckt Iham, der sich in ihr Kleid gewickelt hat, die Hand entgegen. Ganz fest drücken sich die beiden. Es ist ein Versprechen, dass sie sich immer wieder aufs Neue geben. Der Bub seiner Oma und sie ihm: Wir halten zusammen. Für immer. DORIT CASPARY