Salzburger Land – Die deppertste Idee hatte der Mega-Konzern Amazon. Das US-Unternehmen wollte aus 38 „Alexa“-Boxen eine Orgel nachbauen. „Alexa“, diese Musikboxen, die, zugegeben, an die Form von Orgelpfeifen erinnern. „Und diese 38 Boxen hätten dann über Wochen hinweg ,Stille Nacht‘ bei uns in der Kapelle geträllert.“ Clemens Konrad schüttelt den Kopf. Er muss das gar nicht weiter kommentieren – sein abfälliges Lächeln verrät, was er von solchen Ideen hält. 200 Jahre „Stille Nacht, heilige Nacht“ – doch niemand schläft, jeder PR-Mensch wacht. Will was abhaben vom Kommerz-Kuchen. Zum Jubiläum des weltweit bekannten Liedes gibt’s „Stille Nacht. Süße Nacht“-Schokolade, Sonder-Briefmarken, Regenschirme. Auch im Museumsladen in Oberndorf bei Salzburg, wo Konrad Tourismusverbands-Chef ist. Lässt er sich alles gefallen. Meinetwegen auch die Stille-Nacht-Wurst, die ein Metzger anbietet. Aber eine Amazon-Werbeaktion in der Kapelle, wo vor 200 Jahren das allererste Mal das Lied „Stille Nacht“ gesungen wurde? „Naa, das gibt’s nicht.“
Konrad ist ein rationaler Typ. Wenn er einen in die Kapelle führt, dann wird nicht Andacht gehalten; mit lauter Stimme erzählt er davon, dass die Fenster ja eigentlich Schmarrn erzählen. „Vikar Josef Mohr schuf hier den Text des Liedes“, heißt’s auf einem. In Wahrheit hatte Mohr (1792–1848) den Text nicht 1818 hier, sondern 1816 in Mariapfarr geschrieben. Was man erst herausfand, als durch das Kirchenfenster schon so manches Morgenlicht gefallen war.
Praktischerweise führt einen die Landesausstellung „Stille Nacht! Heilige Nacht!“, die bis 3. Februar 2019 in neun österreichischen Orten zu sehen ist, unter anderem nach Mariapfarr. Oder nach Hochburg-Ach, wo der Komponist der Melodie, Franz Xaver Gruber (1787–1863), geboren wurde. Auch hier kommentiert Konrad herrlich trocken: „Im Jubiläumsjahr wird noch jeder Ort, an dem Mohr oder Gruber mal auf der Toilette waren, zur Stille-Nacht-Gemeinde.“
Hätte er entscheiden dürfen, wer alles etwas vom knapp 1,7-Millionen-Euro- Budget für die Jubiläums-feierlichkeiten bekommt, hätte Konrad drei Gemeinden ausgewählt: Mariapfarr, Arnsdorf, wo Gruber als Lehrer wirkte, und Oberndorf, wo das Lied zum allerersten Mal erklang. Doch Konrad durfte nicht entscheiden, und deshalb können Touristen nun von einem Stille-Nacht-Museum zum nächsten fahren. Von Salzburg über Oberösterreich ins Zillertal. Ein Kombi-Ticket erleichtert die Anreise.
Und ist die Grundgeschichte auch immer dieselbe, hat dieses Reisen in die kleinen, wunderhübschen Orte doch einen ungemeinen Reiz. Weil man dabei auf Menschen wie Brigitte Winkler trifft. Fröhlich begrüßt sie einen im Stille-Nacht-Museum Hallein, einem bezaubernden Örtchen 15 Minuten südlich von Salzburg. Die 59-Jährige nimmt ihre Berufsbezeichnung „Kulturvermittlerin“ wörtlich. Wie ein österreichischer Wasserfall erzählt sie – und stupst die Besucher hinein ins 19. Jahrhundert: „Lassen Sie sich hineinfallen in die Zeit. Spüren Sie nach, wie es damals war!“
Damals, als die Napoleonischen Kriege Europa ausgeblutet hatten, als die wohlhabende Schifferstadt Laufen im Wortsinne über Nacht getrennt wurde. Und die Salzach zur Grenzlinie wurde zwischen dem nun eigenständigen Städtchen Oberndorf in Österreich und Laufen in Bayern. Doch die reichen Schiffersfamilien saßen auf bayerischer Seite. Die Menschen im österreichischen Oberndorf waren arm, Familien wurden auseinandergerissen; man war seiner Identität beraubt. „Und in dieser Zeit möchte Joseph Mohr, der in Oberndorf Hilfspriester war, den Menschen am Heiligen Abend Kraft spenden.“ Gruber schreibt die Musik zu den sechs Strophen, von denen heute allgemein die ersten zwei und die sechste gesungen werden (siehe Kasten). Er komponiert sie für Gitarre. Völlig ungewöhnlich damals; die Gitarre, das war ein Wirtshausinstrument. Mohr wollte so die Barriere zwischen predigendem Pfarrer und Volk überwinden.
In der überaus sehenswerten Ausstellung im Salzburg Museum, die wahrlich jeden Fakt aufführt, der über das Lied bekannt ist, wird es als „Österreichs Friedensbotschaft an die Welt“ beworben. Da hört selbst bei Brigitte Winkler das Lächeln auf. „Ein Friedenslied? Was für ein Unsinn!“ Der Grund dafür, dass immer wieder von der friedenbringenden Wirkung gesprochen wird, liegt an Erinnerungen aus Kriegszeiten. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg ließen Soldaten in der Heiligen Nacht die Waffen liegen und stimmten gemeinsam, Feind und Feind, „Stille Nacht“ an. „Ja, und am nächsten Tag haben sie wieder aufeinander hingeballert!“, ärgert sich Winkler. Und redet sich dann leidenschaftlich in Rage. „Das waren junge Burschen! An was haben die wohl gedacht, als sie draußen in der Kälte, im Dunkel, im Krieg waren? An die Heimat! Die hatten Heimweh! Und was macht man da? Man erinnert sich an das, was gerade zu Hause vor sich geht!“ Stille Nacht, das gehöre eben zu Weihnachten dazu wie Lebkuchen und Kerzenschein. „Friedenslied? Dagegen wehre ich mich! Stille Nacht ist Emotion, ist Kindheitserinnerung!“
In wenigen Tagen wird es wieder millionenfach angestimmt, überall auf der Welt. Am allerschönsten freilich in Oberndorf, auf dem schneebedeckten Hügel vor der Kapelle. Wie in jedem Jahr werden am Nachmittag die Schützen das Christkindl anschießen, bevor Tausende Menschen zusammen Andacht feiern. Und gemeinsam singen, alle sechs Strophen. Ein Moment, bei dem auch Clemens Konrad jedes Mal Gänsehaut bekommt.
Vor zwei Jahren haben sie die Veranstaltung nach Japan übertragen. 30 Millionen Japaner haben eingeschaltet. Noch „Stille Nacht“-verrückter sind wohl nur die US-Amerikaner. Die haben die Kapelle gleich eins zu eins nachgebaut. In „Bronner’s Christmas Wonderland“ in Michigan kann man nach dem Bummel durch 50 000 Weihnachtsartikel zu jeder Jahreszeit die Kapellen-Kopie besuchen. Darin tönt bei Ferne und Nah: das Lied in Endlosschleife. Hallelujah.
Informationen
zu allen Veranstaltungen unter www.landesausstellung2018.at.