München – Manche Menschen fühlen sich pumperlgsund und fallen scheinbar wie aus dem Nichts tot um. Sie werden Opfer von so genannten „stillen Killern“ – Erkrankungen, die sich schleichend und weitgehend schmerzlos entwickeln. Wenn der Patient die Symptome beziehungsweise die Folgen zu spüren bekommt, kann es bereits um Leben und Tod gehen.
Die Paradebeispiele sind Bluthochdruck und Diabetes. „Millionen Menschen wissen überhaupt nicht, dass sie an Volkskrankheiten leiden, die nach und nach Herz, Hirn und Blutgefäße schädigen“, sagt Professor Dr. Martin Halle, Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin der TU München. „Für diese Patienten kommt ein Herzinfarkt oder Schlaganfall dann vermeintlich wie aus heiterem Himmel.“
Oft, aber nicht immer, lassen sich „stille Killer“ bei Vorsorgeuntersuchungen enttarnen. Wenn Alarmsignale auftreten, besteht die Gefahr, dass man sie unterschätzt. Davor sind auch Mediziner nicht gefeit, nicht mal ein Medizin-Nobelpreisträger wie Professor Dr. Bert Sakmann. Eine Entzündung an der Zahnwurzel hätte ihn beinahe das Leben gekostet. „Es stand Spitz auf Knopf“, sagt Herzchirurg Professor Dr. Walter Eichinger, der seinem Kollegen in einer Not-OP das Leben rettete.
Fall 1: Not-OP wegen entzündeten Zahns
Er liebt seine vier Enkel über alles, das Fotobuch von ihnen hütet er wie einen Schatz. Dass Professor Dr. Bert Sakmann die Rasselbande wieder in die Arme schließen kann, ist alles andere als selbstverständlich. Der Medizin-Nobelpreisträger hat nur knapp eine schweren Endokarditis überlebt, wie Experten sagen. Bakterien hatten sich unbemerkt in seine Herzinnenhaut und vor allem in die Mitralklappe gefressen. „Meine Ärzte vermuten, dass die Infektion von einer entzündeten Zahnwurzel ausgegangen ist.“
Als der Patient in der Notaufnahme der München Klinik in Bogenhausen eintraf, hatte er hohes Fieber, verlor zunehmend die Orientierung. „Ich hatte bereits eine Sepsis. Die damit verbundenen Fieberfantasien waren für mich eine absolute Grenzerfahrung. Wirre Gedanken schossen durch meinen Kopf“, erzählt der weltberühmte Wissenschaftler, der so komplexe Zusammenhänge wie die Biomechanik der Zellmembran erforschte. „Ich sah mich selbst als einen Toten, der als Internetfigur weiterlebt.“
In Bogenhausen leiteten die Ärzte sofort eine Antibiotika-Therapie ein – auch, um Zeit zu gewinnen. Schnell war klar, dass Sakmann operiert werden muss. Dabei wird in der Regel das entzündete Gewebe entfernt. „Aber bei Herrn Sakmann war das extrem schwierig, weil das gesamte Herz von Bakterien befallen war“, erklärt Professor Walter Eichinger. In einer mehrstündigen OP gelang es dem erfahrenen Chefarzt der Bogenhausener Herzchirurgie, die zerstörte Mitralklappe durch eine künstliche Herzklappe zu ersetzen. Sie besteht aus dem Gewebe eines Schweineherzens.
Inzwischen erholt sich Sakmann bei der Reha in der Klinik im Alpenpark in Bad Wiessee. Der unfreiwillige Perspektivwechsel vom Mediziner zum Notfall-Patienten in Bogenhausen hat ihn „tief beeindruckt“, wie er betont: „Die Ärzte und Pflegekräfte in den Krankenhäusern leisten Unglaubliches für ihre Patienten, obwohl sie immer am Limit arbeiten müssen. Sie sind für mich Helden unserer Gesellschaft.“
Fall 2: Aneurisma – eine Zeitbombe im Körper
Georg Wurdak (57) aus Piding im Berchtesgadener Land hat schon immer gerne gesportelt, der Mann fühlt sich richtig wohl, wenn es anstrengend wird. Zum Beispiel auf dem Pidinger Klettersteig praktisch vor seiner Haustür, der zu den schwersten Bayerns zählt.
Doch statt den 1300 Höhenmetern auf den Hochstaufen schaffte der Hobby-Kraxler plötzlich kaum noch eine kurze Strecke auf dem Radl. „Innerhalb kurzer Zeit hat sich mein Zustand so sehr verschlechtert, dass ich bei der kleinsten Belastung fast vom Sattel gefallen bin“, erzählt er. Gerade noch rechtzeitig ging Wurdak zum Arzt.
Die Diagnose: ein Aortenaneurysma, wie die Mediziner eine krankhafte Erweiterung der Hauptschlagader (Fachbegriff Aorta) nennen – in Wurdaks speziellem Fall befeuert durch eine defekte Herzklappe. Vergangene Woche wurde der 57-Jährige in der München Klinik Bogenhausen operiert, wie das städtische Klinikum neuerdings heißt. „Wir haben den erkrankten Abschnitt der Aorta mit einer Prothese aus Kunststoff praktisch überbrückt, außerdem wurde die kaputte Herzklappe ersetzt“, erklärt Professor Walter Eichinger.
„Ich bin heilfroh und erleichtert, dass ich das Aneurysma los bin“, sagt sein Patient. Er weiß: Die tickende Zeitbombe in seiner Brust drohte zu platzen. „In diesem Fall hätte er innerhalb von wenigen Minuten innerlich verbluten können“, berichtet Eichinger. Sein Patient litt an einem vergleichweise seltenen Thorax-Aneurysma, dagegen kommen Erweiterungen an der Bauchschlagader ungefähr zehn Mal so oft vor. Und viele Betroffene wissen gar nichts davon.
So schätzen Experten, dass allein in Deutschland etwa 200 000 Menschen mit einem unerkannten Bauchaortenaneurysma leben. „Es verursacht in der Regel keine Beschwerden“, weiß Professor Eichinger. Doch wenn es plötzlich platzt, haben die Betroffenen schlechte Karten. In sieben von zehn Fällen verbluten die Patienten innerlich – und von den 30 Prozent, die die Klinik überhaupt noch lebend erreichen, kommt am Ende nur jeder Zweite durch.
Allein in Deutschland reißt beispielsweise die „Bombe im Bauch“ jährlich etwa 10 000 Menschen aus dem Leben, dazu kommen viele weitere Opfer von Aneurysmen im Thorax (Brustkorb) oder im Kopf. Tragisch dabei: Insbesondere die allermeisten Bauchaortenaneurysmen ließen sich bei einer einfachen Ultraschalluntersuchung enttarnen.
Schwieriger ist es, Thoraxaneurysmen zu erkennen. „Hier bedarf es in der Regel einer Computertomografie.“ Während kleinere Aneurysmen zunächst bei Kontrolluntersuchungen regelmäßig überwacht werden, besteht bei größeren unmittelbar Handlungsbedarf. Als Faustregel gilt: Ab einem Durchmesser von fünf Zentimetern sollte man operieren. Mit dem Durchmesser steigt das so genannte Rupturrisiko, also die Gefahr, dass das Aneurysma platzt. Bei bis zu fünf Zentimetern passiert dies nur in fünf Prozent der Fälle.
Als dramatischer Notfall erweist sich die Aortendissektion. „Dabei reißt die innere Gefäßwand der Aorta ein, und in der Folge spaltet sich die Hauptschlagader – vereinfacht gesagt – auf der ganzen Länge auf, es kommt zu Einblutungen“, sagt Professor Eichinger. Der Patient fühlt wie aus dem Nichts starke Schmerzen, meist am Rücken und im Brustkorb. Die einzige Chance, ihn zu retten: eine spektakuläre und gefährliche Operation.
Dabei wird das Herz des Patienten angehalten und ein Kreislaufstillstand herbeigeführt. Er ist klinisch tot – allerdings nur vorübergehend. Man kann ihn wieder ins Leben zurückholen, weil seine Körpertemperatur während des Eingriffs auf unter 18 Grad heruntergekühlt wird. „Wir Herzchirurgen haben dann maximal etwa eine Stunde Zeit, um unseren Job zu machen“, sagt Eichinger. Dabei müssen meist der Aortenbogen und die aufsteigende Aorta mit einer Prothese ersetzt werden.
Bei dem Eingriff stirbt etwa jeder fünfte Patient, aber er ist trotzdem alternativlos, das zeigt nüchtern die Statistik: „Unbehandelt steigt die Sterblichkeit bei einer Aortendissektion pro Stunde um zwei Prozent.“ Das bedeutet: Ohne OP ist praktisch jeder Betroffene spätestens nach zwei Tagen tot.