Große Interviews sind für Hans-Jochen Vogel mittlerweile ziemlich anstrengend. Aber Altkanzler Schmidts hundertster Geburtstag am Sonntag (23.12.) ist eine Ausnahme. „Für den Helmut mache ich das“, sagt der 92-Jährige bei der Terminabsprache am Telefon. Wir trafen den früheren SPD-Chef und Bundesminister in seinem Münchner Seniorenwohnheim zum Gespräch über den großen Hamburger, Staatsmann und Freund Vogels.
Seit drei Jahren ist Helmut Schmidt tot. Wie sehr vermissen Sie ihn und in welchen Situationen?
Ich vermisse ihn nach wie vor. Denn er hat ja auch in seinem hohen Alter immer wieder in einer Weise zu weltpolitischen und europapolitischen Ereignissen Stellung genommen, die starken Eindruck auf mich gemacht hat. Hier hat jemand aus der Fülle seiner Erfahrungen geschöpft. Er hat warnende Signale gegeben, aber auch erkennen lassen, was er für notwendig hält und unterstützt. Gott sei Dank hat er den gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten nicht mehr erlebt. Das wäre interessant geworden…
…Schmidt ging ja Ende der 70er-Jahre bereits mit dem damaligen, im Vergleich zu Trump harmlosen, US-Präsidenten Jimmy Carter hart ins Gericht…
Ja, den ging er bei einem Treffen in Venedig mit einer gewissen Schärfe an. Aber auch gegenüber Trump hätte es Helmut Schmidt an Deutlichkeit nicht fehlen lassen. Er hätte sich allerdings in der Auseinandersetzung nicht auf das Niveau des Herrn Trump herabbegeben und sich per Twitter geäußert. Schmidt hätte in klaren Sätzen benannt, warum Herr Trump die bis dahin einigermaßen stabile Weltordnung unberechenbarer gemacht hat.
Vermissen Sie ihn auch privat?
Ja, es hat sich nach dem „Deutschen Herbst“ 1977, der Herausforderung durch den Terrorismus der RAF, in dem wir in der Bundesregierung sehr eng miteinander gearbeitet haben, am Ende eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Meine Frau und ich haben Helmut und Loki dann alljährlich am Brahmsee besucht, dem Ferienhaus der Schmidts. Am Ende, bedingt durch Lokis Gesundheitszustand, nur noch in Hamburg-Langenhorn. Wir haben uns auch brieflich immer wieder ausgetauscht. Besonders gefreut hat mich, dass er zu meinem letzten Buch („Es gilt das gesprochene Wort“) ein Vorwort geschrieben hat, in dem er mich als „Freund“ bezeichnet. Das war mir eine Ehre und Freude. Ich kann das von meiner Seite aus nur erwidern.
Wie haben Sie den Kanzler Schmidt in dieser Krisensituation der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und der Passagiere der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu erlebt?
Er hat mit besonnener Entschlossenheit die damalige Lage gemeistert. Und ich habe ihm mit meinen rechtlichen Argumenten gegen die Freilassung der RAF-Terroristen aus der Haft in Stuttgart-Stammheim helfen können. Schmidt hat sich vor allem auch mein Argument zu eigen gemacht, dass eine Freilassung der Terroristen für diese eine unglaubliche Ermutigung bedeutet hätte, Entführungen bei jeder Gelegenheit zu wiederholen. Auch hätten die Freigelassenen weiter gemordet.
Schleyer hat es das Leben gekostet…
Ja. Aber er ist nicht geopfert worden. Wir haben vielmehr alles versucht, um ihn zu finden und zu retten. Aber dann gab es diese Panne bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Ich war damals auch besonders berührt, weil ich den Auftrag hatte, täglich den Kontakt zu Schleyers Sohn aufrechtzuerhalten. Als die familiäre Hanns-Martin Schleyer-Stiftung Helmut Schmidt 2012 ihren Preis verlieh, war das für ihn ein Zeichen der Aussöhnung. Außerdem: Wir haben den Tod von Schleyer verursacht, aber wir haben ihn nicht verschuldet. Aber auch das beschäftigt einen noch immer.
Wenn Sie Helmut Schmidt am Brahmsee besuchten, ging es dann ausschließlich um Privates, oder über kurz oder lang doch wieder über Politik?
Na ja, es ging natürlich um Politik. Aber es gab auch Unterhaltungen über eher Privates. So etwa über religiöse Fragen. Beispielsweise war sein Verhältnis zur evangelischen Kirche ein Thema, an dem sich auch Loki, seine großartige Frau, immer beteiligt hat.
War Schmidt gläubig?
Er war wohl nicht im tiefen Sinne gläubig. Aber er blieb sein Leben lang evangelischer Christ, auch wenn er nicht viel darüber gesprochen hat. Das Christsein gab ihm sicher auch in manchen Fragen Orientierung. Seine Trauerfeier in der Hamburger Michaeliskirche begann ja auch mit einem evangelischen Gottesdienst, an den sich der Staatsakt anschloss. Mich hat damals sehr berührt, dass er sich für den Gottesdienst das Lied von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“ ausgesucht hat.
Können Sie sich an das letzte Gespräch mit ihm erinnern?
Das letzte Gespräch fand in seinem Haus in Langenhorn statt. Ich erinnere mich, dass Loki gesundheitlich schon ziemlich schlecht beieinander war. Helmut war hingegen mit dem neu eingebauten Treppenlift sehr zufrieden. Wir sprachen über aktuelle Ereignisse und erinnerten uns an manche, die nicht mehr lebten. Das Gespräch dauerte so zwei, drei Stunden.
Wenn Helmut Schmidt an seinem hundertsten Geburtstag zurückkäme und einen Blick auf die Weltpolitik werfen würde: Was würde er sagen?
Er würde auf globaler Ebene Amerika und Russland dringend auffordern, über den INF-Vertrag, den ausgerechnet Trump (schlägt mit den Händen auf den Tisch und schüttelt den Kopf) aufkündigen will und den Putin offenbar nicht vollständig eingehalten hat, erneut zu verhandeln und nicht ein neues Wettrüsten in Gang zu setzen. Er würde sich auch für den Erhalt und die Festigung der Europäische Union aussprechen. Zum einen aus wirtschaftlichen Gründen. Aber hauptsächlich deshalb, damit die europäischen Länder im Weltkonzert überhaupt noch gehört werden. Wir stellen heute bereits nur noch 7,3 Prozent der Weltbevölkerung. Aber wenn wir auseinanderfallen, so wie diese nationalistischen Narren es wollen, werden wir als Einzelstaaten auf die Weltentwicklung keinen Einfluss mehr nehmen können.
Hätte Helmut Schmidt versucht, den Brexit zu verhindern?
Er hätte sicherlich ein kräftiges Wort dazu gesagt. Er hätte die Briten mit Fakten konfrontiert, was das bedeuten würde. Er hätte vor allem frühzeitig darauf hingewiesen, dass ein Brexit ohne Vertrag zu chaotischen Verhältnissen führen würde. Schmidt hat für die europäische Entwicklung allein schon deshalb eine große Rolle gespielt, weil er mit (dem damaligen französischen Präsidenten) Giscard d’Estaing die Grundlage für den Euro gelegt hat.
Wie wäre Helmut Schmidt mit der Welt von Facebook, Twitter und Fake News zurechtgekommen?
Er hat sich von diesen modernen Kommunikationsformen ferngehalten. Er hätte sich weiterhin in der Weise geäußert, wie er es sein Leben lang getan hat: in einem Interview, einem Aufsatz oder in einem Buch. In gewisser Weise ist Helmut Schmidt mit seinem Tod auch einiges erspart geblieben. So die Trump’schen Deals und die Fake News, aber auch der Aufstieg der AfD. Einerseits bin ich froh, dass ihm das erspart geblieben ist. Andererseits ist es traurig, dass er nicht mehr eine klare Meinung dazu formulieren konnte. War er doch einer der wenigen Deutschen, die weltweit gehört wurden.
Wir können nicht über Helmut Schmidt reden, ohne die SPD zu erwähnen. Sein Verhältnis zur Partei war oft schwierig.
Helmut Schmidt hatte ein festes Verhältnis zur SPD, aber es war eher ein intellektuelles Verhältnis, kein emotionales wie etwa bei Willy Brandt. Und wenn er staatliche Verantwortung trug, galt für Schmidt immer: zuerst das Land, dann die Partei, dann die Person. Dieses Prinzip kam in besonderer Weise beim Nato-Doppelbeschluss zum Tragen. Die Partei war darüber tief gespalten. Die Abstimmungsniederlage auf dem Sonderparteitag im November 1983, der sich gegen die Stationierung entschied, hat er übrigens mit erstaunlicher Selbstbeherrschung hingenommen.
Was würde er der SPD raten, um aus dem Umfragetief zu kommen? Wie Gerhard Schröder, um die Mitte zu kämpfen? Oder die Agenda2010 aufzugeben?
Er würde erst einmal darauf hinweisen, dass der Anteil der Arbeitnehmerschaft von früher rund 50 Prozent deutlich zurückgegangen ist. Und dass man denen, die heute in einer sich weiter öffnenden sozialen Kluft immer mehr ins Prekariat geraten, etwas Handfestes bieten muss. Wir stehen ja erst am Anfang der digitalen Veränderungen der Wirtschaft und insbesondere des Arbeitsmarktes. Schmidt sprach schon früher vom „Raubtier“-Kapitalismus. Inzwischen sind die „Raubtiere“ Google, Amazon und Facebook in einer Weise gewachsen, dass die Staaten größte Schwierigkeiten haben, solchen Konzernen Regelungen aufzuerlegen, die sie auch beachten.
Ist Politik heute schwieriger geworden – vor allem im Hinblick auf langfristige Ziele?
Politik ist viel schwieriger geworden. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die Entwicklungen insgesamt ungeheuer beschleunigt haben. Von der Erfindung des Buchdrucks bis zur ersten Dampfmaschine vergingen über 300 Jahre. Von der Dampfmaschine bis zum ersten Telefon oder Unterseekabel über 50 Jahre. Von dort bis zum ersten Computersystem wieder 50 Jahre. Und das Tempo beschleunigt sich weiter. Das alles führt dazu, dass eine belastbare Beurteilung der Zukunft und damit das Finden von Lösungen verdammt schwierig geworden ist. Aber ich bin Optimist. Es gibt auch hoffnungsvolle Zeichen. Etwa den Pariser Klimavertrag, der jetzt durch das Treffen in Kattowitz ergänzt wurde, oder der Migrationspakt der UN – das sind Versuche, globale Entwicklungen steuern zu können.
Wenn Sie Helmut Schmidt zum Geburtstag ein Fax – wohin auch immer – schicken könnten, was würden Sie ihm wünschen?
Dass er weiterhin Freude an seinen Zigaretten hat. Und ich würde ihm zusätzlich wünschen, dass er seine Stimme zu wichtigen Problemen immer dann erhebt, wenn ihm das notwendig erscheint. Von wo aus auch immer.
Interview: Alexander Weber und Marcus Mäckler