München – Das Jahr geht zu Ende – und die Geister kommen. Das ist immer so. Im Winter und vor allem zwischen den Jahren haben Perchten und Dämonen Hochkonjunktur. Wenn man denn daran glaubt. Rainer Wehse, 77, ist Volkskundler. Er lebt in Reichertshausen im Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm. Im Interview erklärt er, was in den nächsten Tagen alles auf uns zukommt.
Herr Dr. Wehse, was steht einem abergläubischen Menschen zwischen den Jahren so alles bevor?
Eine ganze Menge! Die Volkskunde spricht da allerdings eher von Volksglauben. Aberglaube ist ein Wort, das im kirchlichen Kontext verwendet wird, als Gegenbild zum religiösen Glauben. Aber egal, ob wir von Glauben, Aberglauben oder Volksglauben sprechen – all das findet im selben Areal des menschlichen Hirns statt. Und von allem gibt es rund um Weihnachten und den Jahreswechsel mehr als genug.
Warum ist das so?
Da kommen verschiedene Faktoren zusammen: Unsere Glaubens- und Brauchtumswelt ist agrarisch geprägt. Deswegen ist da im Sommer, zur Erntezeit, sehr wenig und im Winter sehr viel los. Weil die Bauern dann einfach die meiste Zeit hatten. Tatsache ist auch, dass der Winter mit seiner Dunkelheit sich für dämonische Verkleidungen und leicht gruselige Bräuche wie die Krampus- oder Perchtenläufe anbietet. Da spielt auch die typisch menschliche Lust am Nervenkitzel eine Rolle.
Warum sind uns Bräuche heute noch so wichtig?
Bräuche haben heute wie damals eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Heute haben wir auch mehr Zeit und Geld als früher. Das sind auch zwei der Gründe, warum Bräuche entgegen der landläufigen Meinung nicht aussterben – sondern im Gegenteil immer mehr dazukommen.
Welche zum Beispiel?
Ich habe das Gefühl, dass wir da ganz gerne Dinge aus dem Ausland übernehmen: Raclette und Fondue kommen nicht aus Deutschland, ebenso die weihnachtliche Außendekoration. Die ist eine Art Re-Import aus den USA: Den Weihnachtsbaum haben wir ja weltweit exportiert, der erste in den USA wurde von einer Deutschen 1912 am Madison Square aufgestellt. Von dort flirrte er dann geschmückt mit Lichterketten und dem ganzen Kram wieder zu uns zurück. Gleichzeitig werden auch regionale Bräuche mit Heimatbezug wiederentdeckt – als Gegenbewegung zu Internationalisierung und Globalisierung.
Gerade sind wir ja mitten drin in den Rauhnächten…
Vom Termin her variieren die Rauhnächte: Der frühestmögliche Beginn ist der Andreastag, der 30. November. Und dann dauern sie je nach Region bis zum Dreikönigstag. Am häufigsten werden die Rauhnächte eingegrenzt auf die zwölf Nächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar.
Was erwartet uns in dieser Zeit?
Einmal geht da die wilde Jagd um: ein Konglomerat aus dämonischen Gestalten, das durch die Gegend fegt. Man darf sie auf keinen Fall belauschen oder angucken, sonst fällt man in Ohnmacht, wacht irgendwann wieder auf und ist dann möglicherweise nicht mehr ganz richtig im Kopf. Oder stirbt im schlimmsten Fall.
Klingt nicht sehr nett.
Spüren Sie die Lust am Gruseln? Diese Vorstellung hat wahrscheinlich auch etwas mit Wetterphänomenen zu tun: Winterstürme, die an den Türen und Fenstern rütteln und in denen vielleicht auch mal jemand durch einen herabfallenden Ast zu Tode kommt.
Insgesamt sind die Rauhnächte ein sehr alter Volksglaube, oder?
„Alt“ ist beim Thema Brauch ja immer eine Qualität, die positiv besetzt ist. Dabei ist vieles gar nicht so alt wie wir denken: Der Adventskranz zum Beispiel stammt aus dem 19. Jahrhundert. Und bei den meisten Bräuchen, die tatsächlich so richtig alt sein könnten, fehlen uns oft Textquellen, die das belegen. Die Rauhnächte sind so ein Fall: Shakespeare hat eine Komödie geschrieben mit dem Titel „Twelfth Night“ – das ist die letzte der Rauhnächte, in der alles drunter und drüber geht. Damit sind wir schon mal mindestens im 16., 17. Jahrhundert. Lange hat man in der Volkskunde vermutet, dass die Rauhnächte auf germanische Bräuche zurückgehen. Aber heute ist diese Meinung in unserem Fach nicht populär. Ich persönlich denke, dass die Rauhnachtsbräuche tatsächlich schon sehr, sehr alt sein könnten.
Welche Bräuche sind typisch für diese Zeit?
Allgemein spielen die Rauhnächte im Bewusstsein der Leute heute nicht mehr die große Rolle, die sie früher hatten. Trotzdem gibt es einige Traditionen, die bis heute gelebt werden. Zum Beispiel das Klausenjagen.
Was ist das?
Dieser Brauch wird vor allem im Voralpenraum ausgeübt und bezieht sich zwar vom Namen her auf das Nikolausfest, hat aber damit eigentlich gar nichts zu tun. Da gehen die jungen Burschen mit einem Rutenbündel nach draußen. Und wenn sich ein Mädchen sehen lässt, wird es damit verdroschen. Meist sehr zärtlich. Aber natürlich gibt es für die Brauchträger feste Regeln, an die sie sich halten müssen, damit das Ganze nicht ausartet. Wobei wir als Volkskundler natürlich heimlich froh sind um jeden Fall, der jemals in die Polizeiakte gekommen ist – denn das sind für uns sichere Quellen dafür, dass der Brauch zu einer bestimmten Zeit ausgeübt worden ist.
In einigen Gemeinden finden gerade auch die Perchtenläufe statt.
Zu diesen eindrucksvollen Winter-Umzügen von dämonisch maskierten Gestalten gibt es zwei Theorien. Die Volkskunde neueren Schlags sieht darin einen Brauch christlichen Ursprungs, der zunächst am Epiphanias-Tag am 6. Januar ausgeübt wurde und durch die Darstellung menschlicher Sünden die Notwendigkeit der Erlösung vor Augen führen sollte. Aus „Epiphanias“ soll dann das Wort „Percht“ geworden sein. Nach der zweiten Theorie stammt der Begriff Percht von dem germanischen Wort „pergan“ für „verbergen“, was ja auch ganz gut zu den Masken passt. Demnach sind die Perchtenläufe die Ausformung alter Dämonen- und Geister-Vorstellungen. Denkbar ist, dass die heutigen Perchtenläufe auf beide Ursprünge zurückgehen.
Was muss ein Brauch generell haben, damit er eine lange Zeit überdauert?
Es muss eine Trägerschaft vorhanden sein, die konstant ist und bleibt. Innerhalb dieser muss es charismatische Menschen geben, die dafür sorgen, dass der Brauch auch weiter ausgeübt wird. Gerne mit dem Hinweis: Das ist uralt und deshalb gut. Dann muss das Umfeld für einen Brauch ideal sein. Ein gutes Beispiel ist hier Halloween: Wir haben in Deutschland viele sogenannte Heischebräuche, bei denen Gruppen von Haus zu Haus gehen mit der Bitte um Gaben, wie das zum Beispiel die Sternsinger tun. Und wir haben den Fasching, wo Verkleiden dazu gehört. Halloween deckt beides ab und konnte sich hier schnell verbreiten.
Gibt es auch an Silvester so was wie einen nationalen Aberglauben?
Bleigießen ist in ganz Deutschland populär. Es ist einfach durchzuführen und hat eigentlich alle anderen Zukunftsschauen abgelöst. Ich persönlich kenne keinen mehr, der Apfelschalen oder Schuhe hinter sich wirft und aus deren Fall-Form die Zukunft zu lesen versucht. Auch kultische Nacktheit, also dass man an Silvester nackt eine Aufgabe erfüllen muss, um etwas über die Zukunft zu erfahren, sieht man eher weniger. Wer das praktiziert, ist aber wahrscheinlich in dieser Jahreszeit sowieso schnell wieder drinnen.
Wenn ich keine Lust auf Bleigießen und Nacktsein habe: Gibt es andere Möglichkeiten, herauszufinden, was mir im neuen Jahr blühen könnte?
Es spielt auch eine Rolle, wen oder was man im neuen Jahr als erstes sieht: Wenn Sie als Frau am ersten Januar morgens zuerst einem jungen Mann begegnen, kann das Positives bedeuten. Wenn es eine schwarze Katze ist, wäre das eher negativ.
Und wenn ich nun so gar nicht an so etwas glaube?
Selbst dann: Passiert einem nach einer negativen Vorhersage tatsächlich etwas Schlimmes, schiebt man es auf den Aberglauben. Wobei Hirnforscher und Psychologen gleichzeitig sagen: Wenn einem etwas Positives vorhergesagt wird, bleibt das länger im Gedächtnis.
Also sind wir alle ein bisschen abergläubisch?
Ich war einmal mit meinen Kindern auf einer Kanutour in Finnland, als sie sehr klein waren. Da kam ein starker Sturm auf und wir mussten verängstigt auf einer Insel Schutz suchen. Da lag ein Kinderschuh, der angeschwemmt worden war. Und eines der Kinder, abergläubisch eigentlich absolut nicht vorbelastet, hat ihn auf den Bug eines Kanus gestellt und gesagt: „Wenn der oben bleibt, wird alles gut.“ Glauben und Aberglauben ist eine Gehirnfunktion, die der Mensch einfach hat.
Auch als Wissenschaftler?
Ich bilde mir natürlich ein, ich sei überhaupt nicht abergläubisch. Trotzdem werde ich auch dieses Silvester wieder allen Leuten ein glückliches neues Jahr wünschen. Dahinter steckt natürlich der innere Glaube, dass sie das tatsächlich haben werden – einfach nur, weil ich es ihnen gewünscht habe.
Das Interview führte: Anne-Nikolin Hagemann