Pastraveni – Eifrig packt Gelu Planaru die Geschenktüten für die Angestellten des Behindertenzentrums in Pastraveni, einem kleinen Ort im Nordosten Rumäniens. Schokoladennikoläuse, Früchte und Nüsse gibt es für die 205 Mitarbeiter. Gelu Planaru selbst ist keiner von ihnen, er ist Bewohner des Zentrums. Der 32-Jährige ist geistig behindert. Wenn man sich mit ihm unterhält, merkt man das allerdings kaum. Er lacht viel, ist ein sehr gläubiger Mensch. Inzwischen ist er Mesner in der kleinen orthodoxen Kapelle, die auf dem Gelände des ehemaligen Kinderheims steht. „Ich bin sehr glücklich hier“, sagt er.
Das war nicht immer so. Gelu Planaru wurde zu Zeiten des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu geboren. Fünf Kinder pro Familie war ein zentrales Ziel seiner Sozialpolitik. Verhütung und Abtreibung standen unter Strafe. So blieb vielen Eltern, die nicht die Mittel hatten, so viele Kinder durchzubringen, nur die Möglichkeit, sie in ein Heim zu geben. Für Kinder mit Behinderung war die Situation noch schlimmer: Viele starben in den ersten Jahren nach ihrer Geburt.
Diese schlimmen Zustände fand auch eine Delegation der Bayerischen Kinderhilfe Rumänien vor, als sie 1991 das Heim in Pastraveni besuchte. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt. Die Kinder, viele im Alter zwischen ein und drei Jahren, hausten in einer Baracke und waren teilweise mit Seilen und Ketten angebunden.
„Es herrschten unmenschliche Zustände“, erinnert sich Wolfgang Schramm. Er war Mediziner an der LMU und hatte bereits vor dem ersten Besuch im Behindertenzentrum geholfen. Inzwischen ist er Vorsitzender der Kinderhilfe, die dem ehemaligen Kinderheim jedes Jahr um die Weihnachtszeit einen Besuch abstattet.
Von den alten Zuständen ist nichts mehr zu sehen: Sechs Häuser und ein Zentralgebäude sind durch Spendengelder und ehrenamtliche Arbeit errichtet worden. Im Zentralgebäude, 2013 eingeweiht, führen die Kinder von einst mit Schülern aus dem Dorf Lieder und Tänze für die bayerischen Gäste auf. Ganz traditionell in rumänischer Tracht, denn das Land feiert dieses Jahr seine 100-jährige Einheit. Einige singen Lieder und führen Volkstänze auf, andere verkleiden sich als Bären, hüpfen zu Trommelschlägen und versuchen so, böse Geister zu vertreiben.
Inzwischen ist der Stacheldraht verschwunden und die Tore sind nicht mehr verschlossen. So kann Gelu Planaru, der ein wenig Weihnachtsgeld von der Kinderhilfe bekommen hat, ins Dorf gehen und sich frische Früchte besorgen. „Außerdem will ich meiner Schwester ein Geschenk kaufen“, sagt der 32-Jährige.
„Ein wichtiger Punkt war von vornherein die Öffnung des Zentrums nach außen“, erklärt Schramm, es sollte kein Sozialneid aufkommen. Die meist arme Landbevölkerung dürfe nicht denken, dass die Bewohner des Heims bevorzugt würden. Mittlerweile ist das Zentrum für Rehabilitation behinderter Kinder – so der offizielle Name der Einrichtung – ein Zuhause für die 202 Betreuten geworden.
Eine davon ist Mona Berchis. Die 32-Jährige lebt seit ihrer Kindheit hier, sie hatte sich – wahrscheinlich durch eine infizierte Nadel – mit HIV angesteckt. Das stört die lebensfrohe, junge Frau aber nicht. Beim Besuch ihrer „bayerischen Freunde“ tanzt sie ausgelassen in ihrem Trachtenhemd und weicht der Besuchergruppe nicht von der Seite. Und bei der Verabschiedung bekommt jeder der Mitgereisten eine Umarmung und einen Kuss auf die Wange. Man spürt ihre Dankbarkeit, endlich ein Zuhause und eine Familie gefunden zu haben.
An Mona Berchis’ Freude merkt man, wie viel sich in den letzten 27 Jahren verändert hat. Neben einer umfangreichen medizinischen und psychologischen Betreuung gibt es für fast alle Bewohner etwas zu tun. Wo früher Kinder in einer zugigen Baracke leben mussten, steht heute ein Schweine- und Hühnerstall mit angeschlossenen landwirtschaftlichen Flächen. „Wir können uns fast autark versorgen“, sagt Nicoleta Birnat, die die Einrichtung leitet. Auch Gelu Plenaru hat einen Platz für sich gefunden: Er arbeitet in der Schreinerei und hat erst vor Kurzem mitgeholfen, ein Pflegebett für einen Mann aus dem Ort zu bauen.
Mit den kleinen Manufakturen auf dem Gelände kann man zwar weitgehend kostendeckend arbeiten. Der Verkauf der Produkte wirft aber nicht genug ab, dass noch etwas für die Betreuten übrig bleibt. „Der rumänische Staat muss einen Rahmen schaffen, Einrichtungen wie unsere finanziell zu unterstützen“, sagt Birnat.
Die Show im Zentralgebäude ist beendet, die bayerische Delegation geht auf Besuchstour in die einzelnen Häuser. In Haus vier sitzen mehrere Bewohner um einen Tisch und spielen mit kleinen Papphäuschen. Sie sind schwerst geistig behindert, sie klatschen im Takt des Liedes aus dem CD-Player. Unter ihnen ist auch die 27-jährige Elena Bejenariu. Sie erlitt vor drei Jahren einen Schlaganfall und kam ins Krankenhaus. Ihr ehemaliger Lebensgefährte kümmerte sich nicht um sie, und ihr gemeinsamer Sohn kam zur Schwester des Ex-Freundes. Da niemand für die Behandlung der jungen Mutter aufkam, wurde sie sich selbst überlassen, lag sich wund und wurde krank und unterernährt nach Pastraveni gebracht.
1991 wäre das höchstwahrscheinlich ihr Todesurteil gewesen, doch heute kümmert man sich gut um die junge Mutter. Sie kann inzwischen wieder selbstständig essen und ein paar Schritte laufen. Auch am Tanz hat sie im Rollstuhl teilgenommen. Während ihre Betreuerin sie zum Takt der Musik drehte, lächelte sie und ihr liefen Freudentränen über die Wangen.
Pastraveni ist zu einem Vorzeigeprojekt geworden. Viele Einrichtungen im Land orientieren sich an dem einstigen Schreckensheim. Doch jetzt, wo die größte Not gelindert ist und die Spendengelder weniger werden, sagt Wolfgang Schramm, freut er sich, dass ein zentrales Ziel erreicht ist: „Wir wollten die Bewohner zur Selbstständigkeit erziehen und ich denke, das haben wir geschafft.“