Die Hitmaschine der Republik

von Redaktion

Vor 50 Jahren hat die BRD ihre legendärste Sendung geschenkt bekommen – die ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck. Sie war der Soundtrack der Bonner Republik. Die Lieder sind noch heute unvergessen.

VON JÖRG HEINRICH

München – Am Tag nach der Premiere war klar, dass diese Sendung keine Zukunft hat. „Die Sänger flüsterten, der Showmaster schrie. Prädikat: Besonders lautstark!“, höhnte die Bild-Zeitung. Der Showmaster sah seine Karriere in Trümmern liegen, mit gerade mal 31: „Ich blätterte die Zeitungen wieder und wieder durch, um vielleicht einen Strohhalm zu finden, an dem ich mein Selbstbewusstsein aufrichten konnte. Aber ich fand nichts“, erinnert sich Dieter Thomas Heck in seiner Biografie an die erste ZDF-Hitparade, die heute vor 50 Jahren, am 18. Januar 1969, um 18.50 Uhr im Zweiten lief.

Das Debüt war ein Fiasko. Doch das längst nicht ausgereifte Fernseh-Frühchen mauserte sich zu Deutschlands legendärster Musiksendung – obwohl der Showmaster weiterschrie. Dem Erfolg hat es nicht geschadet. Wir verraten die Geheimnisse der legendären Hitparade.

Die erste Ausgabe

Die Premiere im Studio 1 der Berliner Union Film war erst die zweite Fernsehsendung des jungen Heck, der davor mit der „Deutschen Schlagerparade“ ein ähnliches Konzept im Radio präsentiert hatte. Regisseur Kurt Branss, der seinen Vornamen in ein schneidiges „Truck“ umgedreht hatte, wollte die Sendung ins Fernsehen bringen. Die ARD-Hitparade war bereits zum Greifen nah. Doch bevor sich die zahllosen Intendanten vom Ersten einig waren, griff das Zett-De-Eff zu.

Die erste Ausgabe ist aus heutiger Sicht eine Schau. Heck brüllt ins Mikrofon: „Die Hitparade, die machen nicht wir! Die machen Sie!“ Der Kerl war zappelig – aber auch so frisch und frech, dass man mehr von ihm sehen wollte.

Der Hitparaden-Diktator

Der geniale, aber schwierige Truck Branss erfand nicht nur die stilbildend karge Kulisse der Sendung, in der die Künstler mitten im Publikum saßen. Er erfand auch den Moderator neu. Denn eigentlich war Heck gar kein He(c)ktiker, sondern eher ein sonorer, ruhiger Showmaster. Doch das trieb ihm Branss aus: „Dieter, du redest, als wären wir bei einer Trauerfeier. Lass es knallen, Junge, sonst schlafen mir die Füße ein!“

Und Dieter ließ es knallen. Einem Branss widersprach man nicht. Legendär sind seine Anpfiffe für arme kleine Schlager-Mäuse wie Marianne Rosenberg: „Mädchen, das Abendkleid nützt nichts, wenn du darin rumläufst wie ein Bauerntrampel.“ Oder für Gitte: „Meine Kleine, in dem Fummel siehst du aus wie ein aufgeschlitztes Sofa.“ Es konnte die Hölle sein in der Hitparade. Aber die Verkaufszahlen nach jedem Auftritt, die waren der Himmel.

Der verhinderte Heck-Rauswurf

Um ein Haar wäre die Erfolgsgeschichte bereits im September 1970 zu Ende gewesen – weil Branss seinen Erfolgsmoderator über eine Intrige stolpern lassen wollte. Heck war ihm zu populär geworden. Branss wollte das Monster loswerden, das er selbst herangezüchtet hatte: „Wohin ich auch gucke, überall Heck, Heck, Heck. Deine Pressegeilheit ist nicht zu überbieten.“

Sein Vorwurf in zwei Worten: „Heck textet!“ Angeblich hätte Heck eigene Liedtexte unter Pseudonym in die Hitparade geschmuggelt, um damit das große Geld zu verdienen. Der Vorwurf war Unfug, das ZDF stellte sich klar an die Seite seines Moderators: „Heck bleibt. Einen anderen Regisseur finden wir immer.“ Ein Schlag für Branss. Der Regisseur hielt das Studio noch bis 1979 unter Kontrolle. Er starb 2005, doch das Verhältnis zu Heck blieb bis an sein Lebensende angeknackst.

Die verlorenen Sendungen

Heute ist YouTube die Heimat der Hitparade. So gut wie jeder Auftritt sowie zahllose Zusammenschnitte sind dort zu finden. Ein wahres Hitparaden-Museum, eine Schlager-Pinakothek zum Mitklatschen. Von den 183 Heck-Sendungen fehlen aber auch hier 24 Shows – der große Stachel im Fleisch eines jeden Fans. Denn die Bänder der Ausgaben 2 (Februar 1969) bis 25 (Juli 1971) sind zerstört und wohl unrettbar verloren. Über die Ursache gibt es mehrere Spekulationen – von zersetztem Bandmaterial bis zum übereifrigen Archivar, der die Bänder überspielte.

So oder so: Die Sendungen mit Auftritten von Roberto Blanco („Heute so, morgen so“) über Michael Holm („Mendocino“) bis France Gall („Kilimandscharo“) sind der Heilige Gral des Deutschen Schlagers. Unentwegte hoffen bis heute auf einen Zufallsfund auf einem Flohmarkt.

Die Hitparade und die Politik

So harmlos die Schlager auch klangen, unpolitisch war die Sendung nie. Die Hitparade war der Soundtrack der Bonner Republik, vertonte BRD. Und dabei schaute die halbe DDR zu, ein ewiges Ärgernis für die Führung in Ost-Berlin, die 1970 mit dem „Schlagerstudio“ ihre eigene sozialistische Hitparade zusammenzimmerte.

Heck hätte gerne DDR-Stars wie Frank Schöbel oder Karat in der Sendung gehabt. Doch zum strammen CDU-Mann und Rainer-Barzel-Freund Heck schickte die DDR bis zum bitteren Ende keines ihrer Aushängeschilder. Jedes der 183 „Hier ist Berlin!“, die Heck in die Wohnstuben röhrte, war schlussendlich ein Signal, dass sich die eingekesselte (Halb-)Stadt nicht unterkriegen lässt.

Als die BRD ab Mitte der Siebziger durch den RAF-Terror finstere Zeiten durchmachte, veränderte sich auch die Hitparade. Den Gute-Laune-Granaten wie Chris Roberts, Jürgen Marcus oder Marianne Rosenberg gelangen plötzlich keine Hits mehr. Sie wurden abgelöst durch neue, ernsthaftere Sänger wie Roland Kaiser und Wolfgang Petry. Zufall war das keiner. Die Hitparade war immer ein Spiegel der Verhältnisse in der alten Bundesrepublik.

Der Orloff-Skandal

Momentan sitzt Kosaken-Sänger Peter Orloff im RTL-Dschungel ein. 1970 sorgte er für noch mehr Schlagzeilen, als über 11 000 Stimmkarten für sein Lied „Baby Dadamda“ mit der gleichen Handschrift beim ZDF eintrafen. Ob Orloff selbst getrickst hat oder ob ihn Konkurrent Ray Miller eine Falle stellen wollte, ließ sich nie klären. Orloff wurde aber bald wieder in der Hitparaden-Familie aufgenommen.

Ach ja, der arme Peter. Er trank ja schon damals keinen Alkohol – aber so einfach lässt ein Truck Branss einen echten Russen nicht davonkommen. Der Regisseur sagte eines Abends an der legendären Hitparaden-Tränke, dem Kiosk des Hotels „Schweizer Hof“, zu ihm: „Sie sind doch Russe. Jeder Russe kann trinken. Wenn Sie nicht trinken, sind Sie keiner.“ Zehn doppelte Wodka musste Orloff kippen.

Das Ende vom Lied

Am 15. Dezember 1984 moderierte Heck seine 183. und letzte Hitparade. Gerüchte über einen Abschied hatte es seit 1977 gegeben. Damals war Heck unzufrieden mit der Qualität der Künstler: „Übler Dreck!“ Frank Elstner stand als Nachfolger so gut wie fest. Doch Heck hielt noch sieben Jahre durch – bis ihm die Rotzlöffel der Neuen Deutschen Welle endgültig die Lust verdarben. Was danach kam, bis 1989 mit Viktor Worms und bis 2000 mit Uwe Hübner, mit englischen Titeln, mit Vollplayback und Titelmusik von Dieter Bohlen, war ein trauriger Absturz in die Bedeutungslosigkeit. So schön wie bei der Heckparade war es nie mehr.

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