München – Es war vielleicht der begehrteste Ort Münchens. Der Eckplatz im „Gabriel“ in der Dachauer Straße 16. Denn über diesem Sitz baumelte eine Kette, mit der man das Fenster öffnen konnte. Wer dort saß, war der offizielle Lüfter des stickigen Kinosaals. Und noch viel wichtiger: Wer dort saß, der durfte „stunden-, ja sogar tagelang“ im Kino bleiben, heißt es 1931 in einem Nachruf auf den großen Münchner Filmpionier Carl Gabriel, der das Kino 1907 eröffnet hat. „Selbstverständlich gab es darum erbitterte Kämpfe unter den Buben und gar oft musste der Direktor Gabriel selbst einschreiten, um die Hitzköpfe zu trennen und den Würdigsten auszuwählen.“
Es waren magische Zeiten, für ein paar Pfennige brachte das Kino die ganze weite Welt ins Münchner Bahnhofsviertel. „Naturaufnahmen aus allen fünf Weltteilen“, stand als Werbung auf der Fassade. Oder auch: „Die neuesten Ereignisse in lebenden Bildern“. 112 Jahre ist das jetzt her. So lange gibt es das älteste Kino der Landeshauptstadt schon. Nach eigener Aussage ist es sogar „sehr wahrscheinlich, das älteste durchgehend bespielte Kino der Welt!“ Hier haben die Bilder tatsächlich das Laufen gelernt.
Doch jetzt ist Schluss, bald ist Schluss, spätestens Ende des Jahres. Kinobetreiberin Alexandra Gmell, die das „Gabriel Filmtheater“ mit ihrem Vater Hans-Walter Büche führt, steht neben der Kasse und sagt: „Die Besucherzahlen sind schlecht.“ Sie sind in den vergangenen Jahren immer schlechter geworden. Der Sommer ist schon immer schwer gewesen, doch im Herbst und an Weihnachten sind die Besucher wieder gekommen. Es war ein unausgesprochenes Versprechen an die Kinobetreiber, fast schon ein deutscher Brauch. „An Weihnachten haben die Leute James Bond und Harry Potter angeschaut“, sagt Gmell. Aber auch das hat irgendwann aufgehört.
Streaming-Dienste wie Netflix bieten zum Preis von einem Kinobesuch tausende Filme pro Monat. Die Couch ist der größte Feind des Kinosessels geworden.
Gmell will nicht schimpfen, sie ist realistisch und sie kann rechnen. Das vierstöckige Haus in Bahnhofsbestlage gehört der Familie – sie werden es verkaufen. „Ich glaube kaum, dass hier danach wieder jemand ein Kino eröffnet. Nach uns die Sintflut. Vielleicht kommt ja noch ein Hotel in die Straße. “
Viele traditionsreiche Kinos haben in München und der Region in den vergangenen Jahren zugesperrt – es ist eine Branche, die den digitalen Wandel jeden Tag an der Kasse spürt. „Die Zahl der Kinos wird sich weiter reduzieren“, sagt Gmell. „Es kommt immer darauf an, wie lange der Atem der Kinobetreiber ist.“ Bei den Besitzern des „Gabriel“ war der Atem extrem lang – das Kino hat sich in all den Jahrzehnten oft neu erfunden. Kino schwankt schon immer zwischen Krise und Aufbruch. Mitte der 1950er-Jahre hatte das Gabriel meistens nicht die Topfilme im Angebot, heißt es in „Neue Paradiese für Kinosüchtige“, einem lesenswerten Buch über die Münchner Kinogeschichte. Deswegen haben die Münchner das „Gabriel“ „Bumm-Bumm-Kino“ getauft – weil so viele Western und Krimis liefen. Mitte der 1960er-Jahre versuchten die Betreiber mit Sexfilmen ihr Glück – nachdem „Tom und Jerry“ und deutsche Heimatfilme kaum jemanden mehr lockten. Die Eltern von Hans-Walter Büche haben das Kino damals geführt. „Wir haben immer neue Sachen probiert“, erzählte der heutige Kino-Chef einmal. „Ja und dann irgendwann –, da hat das auch nicht mehr funktioniert. Und da kam auf einmal einer mit einem FKK-Film an. Man hat sich schon geniert natürlich. So nackerte Dinger zeigen – aber das lief wie die Feuerwehr.“ Die Filme hießen dann: „Paradies ohne Hüllen“, „Graf Porno“ oder „Höllisch heiße Mädchen“.
Auch diese Phase ging wieder vorbei. 1993 sah Hans-Walter Büche bei einem USA-Urlaub den Saurier-Kracher „Jurassic Park“. Er war begeistert – und entschied, fortan auf Schmuddelkram zu verzichten, das Kino zu renovieren und es „Neues Gabriel“ zu taufen. Eröffnungsfilm 1994 war: „Wolf – Das Tier im Manne“ mit Jack Nicholson.
Es war der erste Film, den Tochter Alexandra Gmell im Gabriel angeschaut hat. Hunderte weitere sind seitdem gefolgt. Gigantische Publikumserfolge waren „Titanic“, erzählt sie, die Sachen von Tarantino und „Das fünfte Element“. Gmell hat erlebt, wie Besucher applaudierten, weil ihnen Szenen so gut gefallen haben. Es gab Heiratsanträge im Kino und völlig unerwartete Erfolge. „Bei Borat“, sagt sie, „haben wir eine Nachtvorstellung angesetzt, die wir nicht inseriert haben, trotzdem war das Kino voll.“
Wenn man die Chefin in diesen Tagen besucht, kommen immer wieder Besucher, die ihr Beileid aussprechen oder die selber getröstet werden müssen. „Noch sind wir da“, sagt Gmell. „Aber irgendwann werden auch bei mir die Tränen kommen.“ Bis dahin wird gnadenlos weitergespielt. Heute im Angebot: Der neue Film von Clint Eastwood oder Bruce Willis als unkaputtbarer Superheld. Noch gibt es Tickets.