Gefangen in der Gletscherspalte

von Redaktion

„Am Berg. Bergretter über ihre dramatischsten Stunden.“ So heißt das Buch, das jetzt erschienen ist. Thomas Käsbohrer aus Iffeldorf beschreibt darin die Arbeit der ehrenamtlichen Retter der Bergwacht. Eine Geschichte erzählen wir hier in gekürzter Form. Julia Thiele, eine Unterammergauer Ärztin und Bergretterin, steckte in einer Gletscherspalte fest.

Unterammergau – Über sich sagt Julia Thiele, sie sei ein Winterkind. Die Kälte: Dies sei ihre Zeit. Ein bisschen Abenteuer steckt in der Unterammergauer Ärztin, wenn sie erzählt, wie sie mit ihrer Schwester Anfang 20 zu Fuß über die Alpen gelaufen sei, von Oberstdorf bis Meran, nur draußen übernachtet.

Seit über zehn Jahren macht sie Dienst bei der Bergwacht, als Ärztin begleitete sie auch schon Expeditionen in den Himalaya. Doch die Geschichte, die sie erzählt, ist eine andere. Es ist ihre eigene Geschichte.

„Es war im September 2008, ein schöner Frühherbst mit besten Bedingungen. Ich war seit einem dreiviertel Jahr zum ersten Mal wieder in den Bergen ‚richtig‘ unterwegs, eine Knieverletzung vom Skifahren war quälend langsam verheilt. Eine Woche hatten mein Bruder und ich uns Zeit genommen, um in den Dolomiten Klettersteige in der südlichen Pala-Gruppe zu gehen. Die Tour hatte mein Knie klaglos mitgemacht.

Weil alles so gut ging, beschlossen wir, nach vier Tagen in der Pala-Gruppe fürs Wochenende noch hinüber Richtung Marmolata zu fahren. Wir wollten noch zwei Tage Klettersteig gehen und von der Contrini-Hütte auf der Südseite über den Westgrat zum Gipfel der Marmolata auf- und auf der Nordseite über den Vernel-Gletscher zur Seilbahn absteigen.

Das war der Plan. Die Nacht hatten wir auf der Contrini- Hütte verbracht. Am Abend hatten wir uns noch beim Hüttenwirt erkundigt, ob unser Weg auch wirklich gangbar sei. Der Hüttenwirt versicherte uns, die Tour wäre ohne Schwierigkeiten machbar. Wenn man sich im Abstieg über den Vernel-Gletscher entlang der seitlichen Schotterfelder halte, brauche man nicht mal Steigeisen, Spalten gebe es auf dem Gletscher keine. Es war mein Bruder, der sich trotzdem Steigeisen auf der Hütte lieh. Er war noch nie damit gegangen und wollte drüben beim Abstieg lernen, am Gletscher zu gehen.

Ich war ja die Erfahrenere von uns beiden, ich dachte, ‚Die brauch ich nicht. Ich geh über’s Schotterfeld und Spalten gibt’s ja eh keine.’ Früh um 6 Uhr verließen wir die Hütte. Über den Klettersteig in der Südwand stiegen wir auf, um von dort hinüber auf den Westgrat zu kommen, das Wetter am Morgen war klar. Überm Westgrat zog es zu. Langsam nahm die Bewölkung zu, es war abzusehen, dass es Regen geben würde.

Nach dem Gipfel wärmten wir uns noch kurz auf und machten uns anschließend an den Abstieg. Auf dem Gletscher angekommen, zeigte ich meinem Bruder, wie man die Steigeisen anzieht. Zuerst stakste er zaghaft auf dem Eis herum. Dann gewann er Vertrauen. Er begann, übermütig auf dem Eis zu tanzen und zuletzt wie eine junge Geiß auf dem Eis herumzuhüpfen.

Mittlerweile hatte leichter Niesel eingesetzt, mein Bruder drehte um und wollte los. Ich beschloss, ebenfalls den direkten Weg über den Gletscher zu nehmen. Ich wollte hinter ihm den Gletscher querend absteigen. Ich trug noch den Klettergurt und meine schweren Bergstiefel vom Klettersteig, hatte aber keine Steigeisen an und folgte meinem Bruder auf dem etwa 40 Grad steilen Eishang.

Es war nur ein kleiner Ausrutscher, mit dem ich mich auf dem steilen Hang plötzlich auf den Hintern setzte. Ich kam auf dem regennassen Eis ins Rutschen, ich spürte, wie meine Goretex-Kleidung mein Rutschen noch beschleunigte, wie ich immer schneller wurde auf dem Rücken liegend, Beine voraus. Der Gletscher ist ja nie ganz eben, es gab da Buckel und Aufwerfungen, mein Hirn arbeitete fieberhaft an einer Lösung, wie ich meinen Fall bremsen könnte.

Dann kam ein Buckel in Sicht, unterhalb vor mir. Noch während ich ihn anpeilte, sah ich einen kurzen Moment die Spalte davor, es war nur ein kurzer Augenblick. Dann rutschte ich, mehr als ich fiel, wie ein Stück Seife in die Spalte. Sie war nicht groß, ich fiel nicht tief, vielleicht zwei Meter. Dann wurde sie enger, mein verdrehtes Bein und der Rucksack bremsten meinen Rutsch. Ich fiel nicht weiter. Ich steckte fest.

Bald erschien das besorgte Gesicht meines Bruders über mir, während ich mir meine Situation klar machte. Ich steckte im oberen Teil der Spalte zwischen den Eiswänden. Unter mir führte die Spalte weiter nach unten. Rechts und links lief Regenwasser die Wände herunter. Immer wieder rutschten Steine und kleine Felsbröckchen über den Rand und fielen auf mich. Es dauerte nicht mal ein paar Minuten und ich war vollkommen durchnässt.

Mich hielt der schwere Rucksack. Das war gut. Und schlecht zugleich, denn ich konnte mich in dieser Lage nicht bewegen. Keinen Millimeter. Ich hatte Angst, dass mich die Schwerkraft weiter die glitschigen Wände in die Spalte hinunterziehen würde.

Es war alles andere als Flugwetter. Doch ich wusste: Ich war nicht allein. Mein Bruder war ja da. Ich sah sein Gesicht über mir. Ich steckte nicht tief. Aber trotzdem war ich einfach meilenweit weg. Seine Hände über mir konnte ich nicht greifen. Mein Bruder griff zum Telefon. Er wollte die Bergrettung alarmieren, die nur eine Stunde entfernt war. Aber ich, selber bei der Bergwacht, ich wollte das nicht. Stolz und Scham hielten mich davon ab. ‚Bis die hier sind, sind wir doch längst wieder draußen‘, sagte ich. Er war da anderer Meinung, aber ich ließ nicht zu, dass er mich überzeugte.

Ich meine, wir waren beide ruhig, aber ich verstand diesmal als Unfallopfer, nicht als Notärztin, dass die Situation des Retters oftmals auch sehr belastend sein kann. Ich mochte zwar die Bergerfahrenere sein, aber er war in der Situation, jetzt helfen und alles richtig machen zu müssen. Mein Bruder hatte, einer Angewohnheit folgend, immer Bandschlingen im Rucksack, wenn er in den Klettersteig ging. Ich weiß noch, dass ich mich manchmal darüber lustig gemacht hatte. Jetzt reichte er mir die Bandschlingen herunter, ich konnte sie tatsächlich greifen. Eine Bandschlinge, das ist ein simples Band aus besonders belastungsfähiger Kunstfaser, das ringförmig verknüpft ist.

Ein erster Versuch: Mein Bruder zog von oben an der Bandschlinge sein ganzes Körpergewicht einsetzend. Eine gefühlte Ewigkeit mühten wir uns ab. ‚Das gibt’s doch nicht. Ich bin so nah an der Oberfläche, ich wieg’ doch keine 60 Kilo, das muss doch gehen, so nah an der Kante.‘

Es war mein Bruder, der nach einer halben Stunde die erst verstörende, dann rettende Idee hatte: ‚Du musst versuchen, den Rucksack loszuwerden, Julia. Versuch’s.‘ Es kostete all meinen Mut. Erst drehte ich den einen Arm aus der Schlaufe. Dann den anderen. Dann gelang es mir, sogar eine der Bandschlingen am Rucksack zu befestigen, denn meinen Rucksack wollte ich keinesfalls aufgeben.

Den Rucksack konnte mein Bruder an der Bandschlinge ganz leicht aus der Spalte ziehen. Ich spürte, dass ich auch ohne Rucksack richtig feststeckte. Als mein Bruder wieder an der Bandschlinge zog, ging erst nichts. Irgendwann ließ mein Bruder meinen Rucksack an der Bandschlinge wieder zu mir hinab, ich schlüpfte verkehrt herum in die Gurte des Rucksacks. So ging es endlich nach oben. Qualvoll langsam. Zentimeter für Zentimeter. Es klappte. Diesmal war ich draußen.

Es war schon deutlich nach 16 Uhr. Es nieselte immer noch auf dem Gletscher. Wir befanden uns auf 3000 Meter und es war ziemlich kalt. Ich war durch und durch nass. Hatte Schürfwunden. Und ein taubes Knie, wo es in der Eiswand eingeklemmt gewesen war.

Um wenigstens etwas Trockenes auf den Leib zu bekommen, kramte mein Bruder eine alte Hose aus seinem Rucksack heraus, sie war mir viel zu groß, aber das machte nichts. Das restliche Stück, zur Seilbahn hinunter, waren es noch 300 Höhenmeter. Den restlichen Weg über den Gletscher klammerte ich mich fest von hinten an meinen Bruder, er hatte ja immer noch die Steigeisen an.

Wir erreichten die Seilbahn wohlbehalten, das Liftpersonal fuhr uns gnädigerweise bergab, obwohl wir erst nach Bahnschluss dort ankamen. Eigentlich hatten wir den Abend noch in den Bergen bleiben wollen. Aber ich weiß noch: Ich wollte sofort weg aus den Bergen. Wie ein kleines Kind wollte ich an dem Abend nur noch heim zu Mama und Papa.

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