München – Manchmal hat Giulios Mutter Angst. Angst, dass alles wieder von vorne losgeht. Und dass es diesmal kein glückliches Ende gibt – dass ihr kleiner Junge kein zweites Spenderherz bekommt, zumindest nicht rechtzeitig. „Es fühlt sich furchtbar an“, sagt sie dann. „Wir können nur von heute auf morgen leben. Und die Zeit mit ihm genießen.“
Giulio, dunkle Löckchen, braune Augen, verschmitztes Lächeln, ist vier Jahre alt. Er lebt in der Nähe von München. Er macht Späßchen, spielt im Schnee, kuschelt mit seiner Mutter. Alltagsmomente. Doch für seine Eltern sind sie besonders – ein Geschenk. Denn schon wenige Wochen nach Giulios Geburt stellte sich heraus, dass sein Herz nicht richtig arbeitet, dass es nie richtig arbeiten wird. Und dass der Bub ein neues braucht. Sofort.
Schuld daran ist ein höchst seltener Gendefekt, sagen die Ärzte. Noch vor seinem ersten Geburtstag werden sie Giulio sieben Mal operieren – und in einer dieser OPs bekommt er ein Herz transplantiert. Die Prognose ist damals gut: Dieses Herz könne zehn bis 15 Jahre halten. Doch seit wenigen Monaten sieht alles wieder anders aus. Und das Leben von Giulios Familie steht erneut kopf. Giulios Herzkranzgefäße sind stark verengt. „Das ist eine ernste Situation“, sagt Professor Nikolaus Haas, Direktor der Abteilung für Kinderkardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Klinikum der Universität München in Großhadern. Er sagt auch: „Es ist viel früher eingetreten, als wir es erwartet haben.“
Nun muss man wissen, dass alle herztransplantierten Menschen eine „Transplantatvaskulopathie“ bekommen. Das heißt: Ihre Herzkranzgefäße verengen sich, genauso wie etwa bei älteren Patienten, die viel rauchen. Das Problem: Es gibt bislang keine Therapie. „Bei manchen tritt dieses Problem eher spät auf, bei anderen eher früh“, sagt Professor Haas. Wie bei Giulio. Der Kleine muss erneut kämpfen. Und er zeigt erneut, dass er sich nicht unterkriegen lässt.
Seit vergangenem September ist er im Kindergarten, hat neue Freunde – und eine Menge Spaß. Wer ihn sieht, denkt definitiv nicht: Oh, das ist aber ein krankes Kind! Die Erzieher wissen natürlich, dass ein Spenderherz in Giulios Brust schlägt – und dass er Medikamente nehmen muss, für immer: sogenannte Immunsuppressiva, die das körpereigene Immunsystem schwächen, damit dieses das fremde Organ nicht abstößt. Deshalb ist Giulio anfälliger für Infekte; jede Erkältung und jeder Magen-Darm-Virus setzen ihn auch länger schachmatt.
Aus diesem Grund hat gleich am Anfang die Kita-Leiterin einen Elternbrief geschrieben. Darin stand, dass nun ein herztransplantiertes Kind im Kindergarten sei – und man doch bitte Rücksicht nehmen und jeden noch so kleinen Infekt melden solle. Dann bekommt Giulios Mutter einen Anruf am Morgen, etwa mit der Info: „Wir haben die Bronchitis in der Kita“ – und sie kann entscheiden, ob sie Giulio schickt oder doch lieber daheim lässt. „Giulio soll eben so normal wie möglich aufwachsen“, sagt sie. „Das ist sehr wichtig!“ Und: „Er hat im Alltag auch keine großen Einschränkungen.“
Doch die Grenzen der Normalität sind seit einigen Monaten wieder schnell erreicht. Zum Beispiel dann, wenn Giulio einmal die Woche zum Blutabnehmen muss. Neuerdings tritt er um sich, will sich nicht piksen lassen. Es ist eben schwer, einem Vierjährigen klarzumachen, dass solche Untersuchungen sein müssen – dass es ohne engmaschige Kontrollen nicht geht. Gerade jetzt, wo Giulios Herz schwächelt. Und die Eltern fürchten müssen, dass ihr Kind früher als erwartet ein neues brauchen wird. Und das wiederum kann dauern. Denn in Deutschland herrscht Organmangel (siehe Kasten).
Allein bei Professor Haas auf der Station warten gerade fünf Kinder auf ein neues Herz. Einem Kind geht es ganz besonders schlecht. Acht weitere werden ambulant behandelt, auch ihr Herz funktioniert nicht gut. Insgesamt 13 Kinder. Nicht alle werden es schaffen. Das zumindest sagt die Statistik.
Professor Haas kennt die Zahlen – und sieht täglich, was das in der Realität heißt. Deshalb ist er ein Anhänger der „Widerspruchslösung“, die nach dem Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hierzulande diskutiert wird, durchaus kontrovers. Demnach gilt jeder automatisch als Organspender, der zu Lebzeiten nicht explizit widersprochen hat. Momentan ist das (noch) anders geregelt: Jeder wird erst Organspender, wenn er einen Organspendeausweis hat. Oder: Wenn die Angehörigen nach dem Tod die Organe zur Spende freigeben.
Giulios Eltern ertragen diese politischen Debatten oft nicht. Vor allem nicht die Argumente von Gegnern der Widerspruchslösung. Seine Mutter sagt dann: „Am liebsten würde ich ein paar dieser Politiker zu uns nach Hause einladen.“ Dann würden sie mal live erleben, was es bedeutet, ein herzkrankes Kind zu haben – und nicht zu wissen, wie es weitergeht, wenn das Herz dieses Kindes nicht mehr von allein pumpt.
Irgendwann kommt nämlich der Punkt, an dem keine Medikamente mehr helfen, weitere Eingriffe nichts mehr besser machen. Dann spielt sich das Leben nur noch im Krankenhaus ab. Weil das Kind jetzt ein Kunstherz braucht, um überleben zu können – um die lange Wartezeit auf ein neues Herz zu überbrücken. Im Schnitt sind das eineinhalb Jahre, und selbst bei den Kleinsten geht es nicht schneller. Denn es fehlen ja Organe.
Giulio hat das schon mal durchgemacht. Er lag in seinem Babybettchen – und sein zarter Körper war durch einen dünnen Schlauch mit einem rund 120 Kilogramm schweren Apparat verbunden: dem Kunstherzen. Rettung und Gefängnis zugleich. Damals hatte er Glück und musste nicht so lange warten.
Für seine Eltern steht fest, dass sie ihrem Sohn „so etwas“ nicht mehr antun. Deshalb überlegen sie jetzt, was sie tun können – die Zeit läuft.
Vielleicht ein Umzug? In ein anderes Land, wo auch eine andere Gesetzeslage herrscht als in Deutschland – und es somit mehr Spenderorgane gibt? Das wäre zumindest eine Möglichkeit. Dann müsste Giulio nämlich nur wenige Wochen auf ein Herz warten. Statt viele Monate voller Ungewissheit. Und: Er könnte weiterleben.