Arzbach – Michael Raphelt, 49, ist im Ausnahmezustand. Er steht auf der Ladefläche eines hölzernen Space Shuttles und erzählt, was er in den nächsten Tagen noch alles erledigen muss: das Sicherheitskonzept mit der Gemeinde besprechen, das Festzelt aufbauen und den TÜV für die Wägen bestellen, fässerweise Bier einkaufen, Parkplätze ausweisen und die Verkaufsbuden organisieren. So geht das schon seit Monaten, doch der Arzbacher nimmt den Stress gerne auf sich.
Raphelt leitet das Organisations-Komitee des Arzbacher Faschingsumzuges. Vom Space Shuttle aus wird er den Menschen zuwinken. Raphelt winkte schon beim letzten Umzug vor zehn Jahren und bei dem davor, vor 20 Jahren. Beim ersten Umzug im Jahr 1960 war er noch nicht auf der Welt. Mehr Umzüge gab es noch nicht in Arzbach, einem Ortsteil von Wackersberg im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen.
Denn die Arzbacher feiern ihren Fasching nur alle zehn Jahre. Am Sonntag ist es wieder so weit. Um halb zwei wird sich der Umzug an der Kapelle in Bewegung setzen, einmal den halben Bogen der Kalkofenstraße ablaufen, sich durch Menschenmassen kämpfen. Vorbei am Sportplatz und an der Feuerwehr, dann über die Hauptstraße zurück zur Kapelle. 1,4 Kilometer sind das, auf denen die Teilnehmer fast ganz Arzbach einmal ablaufen. Dann machen sie noch einmal eine halbe Runde bis zur Feuerwehr. Über 6000 Menschen werden ihnen dabei zusehen. Arzbach hat nur ein paar hundert Einwohner. Die BOB hat Sonderzüge eingesetzt. Raphelt: „Es ist der Höhepunkt des Jahres.“
Drei Stunden wird der Höhepunkt dauern. Danach geht es an den Ständen weiter, abends im Festzelt. Von diesem einen Tag zehren sie hier ein ganzes Jahrzehnt. Besonders von 2009 schwärmen die Arzbacher noch heute. Vom Sonnenschein und vom Zug, der so lang war, dass das Ende auf dem Rundkurs gleich wieder auf den Anfang folgte. „Das Highlight war das Wikinger-Schiff“, sagt Raphelt. „Und die Stretch-Limousine, die das Organisations-Komitee gebaut hatte.“ Die war so lang, dass sie kaum um die engen Kurven kam. Doch die Arzbacher lernen dazu: Raphelts neues Space Shuttle hat jetzt Klappflügel. Die Pläne dafür hat er aus dem Internet.
Grob 30 Einheimische werkeln seit November hinter einer Scheune beim Sportplatz an ihren Wägen, immer Freitag- und Samstagnachmittag. Über den ganzen Ortsteil verstreut basteln die Menschen in Hallen und Höfen an ihren fahrenden Kunstwerken. 25 Stück werden es am Ende etwa sein, schätzt Raphelt. Und 600 Teilnehmer.
Jeder Arzbacher weiß genau, was er bei den letzten Umzügen gemacht hat. „Ich habe 2009 Frau Pauli parodiert, die damals von der CSU zu den Freien Wählern übergelaufen ist“, sagt einer. „1999 war ich dreizehn und habe zugeschaut“, ein anderer. „Ich habe beim letzten Mal am Start die Wägen eingewießen“, sagt Hans Willibald, 79. Er hat sich gerade seinen weißen Arbeitsmantel angezogen. Heuer gehört der ehemalige Kfz-Mechaniker keinem Projekt fest an, kommt aber zum Helfen an die Scheune. „Wer viel kann, muss viel tun“, sagt er. Faschingsfan ist er nicht, aber Hobby-Handwerker.
Das ist ein Geheimnis des Arzbacher Faschings: Er ist für die Menschen hier ein Mittel zum Zweck, um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Das monatelange Basteln ist fast wichtiger als die Verkleiderei. Die Arzbacher würden wohl auch alles andere feiern – solange sie dafür gemeinsam etwas bauen und feiern dürften. Mit-Organisator Florian Buchmann, 42, sagt: „So wirklicher Faschings-Fan ist keiner von uns.“ Vielleicht ist das ihr Erfolgsrezept – sie wissen genau, wie viel Fasching der Arzbacher verträgt. Drei Stunden alle zehn Jahre.
Selbst Chef-Organisator Raphelt geht fast nie anderswo zu Umzügen. „Nur einmal, mit 12“, sagt er, „da habe ich mich mit Freunden als das Waldsterben verkleidet.“ Aber für seinen Heimatort gibt er alle zehn Jahre alles. Vergangenes Jahr musste er seine Gaststätte, den Kramerwirt, aufgeben. Er hatte gesundheitliche Probleme. Den Fasching organisiert er trotzdem weiter. „Man sieht, dass es sich rentiert“, sagt er. Der Gewinn wird unter den Vereinen im Ort geteilt.
Dass Raphelt nicht vom Fasching lassen will, liegt auch daran, dass er und sechs Freunde 1999 den Arzbachern das Närrisch-Sein erst wieder beibrachten. Nach dem ersten Umzug 1960 war der Brauch eingeschlafen. Die Freunde schrieben Vereine an, überredeten Bekannte. „Der Umzug war gut, aber das Wetter schlecht“, sagt Raphelt. Dieses Jahr hofft er auf Sonnenschein. 180 Minuten würden ihm schon reichen.