Paradiese sagen Touristen den Kampf an

von Redaktion

Die Zahl der Auslandsreisen wächst rasant – und bringt beliebte Urlaubsziele an den Rand des Zusammenbruchs. Übertourismus nennt sich das Problem, das der Reisebranche immer mehr Kopfzerbrechen bereitet. Venedig versucht nun, mit einer Art Eintrittsgeld gegenzusteuern.

VON WOLFGANG HAUSKRECHT

München – Luigi Brugnaro hätte gerne einen Leidensgenossen. Aber ihm fällt keiner ein. „Es gibt niemanden auf der Welt, der diese Art von Situation hat“, sagte der Bürgermeister von Venedig. Gestern stellte er in Rom seinen Plan zur Rettung der berühmten Lagunenstadt vor. In einigen Monaten, ein genaues Datum gibt es noch nicht, sollen Tagestouristen in Venedig Eintritt zahlen. Die Touristenmassen wird Brugnaro damit kaum stoppen. Aber er will erreichen, dass die Kosten für die Reinigung der Stadt nicht nur auf den „Schultern der Bürger“ lasten. Womöglich sei die Maßnahme auch etwas für andere europäische Städte, sagte er.

Venedig wird von Touristen überflutet. Brugnaro will, dass die Stadt besser gepflegt wird, denn der Tourismus hinterlässt Spuren an der Substanz. „Wir wollen die Stadt verteidigen.“ Brugnaro will Besucher aber auch ermutigen, nicht nur einen Abstecher nach Venedig zu machen, sondern einige Tage zu bleiben. Denn das Kernproblem sind die vielen Tagestouristen. Und die soll es treffen. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Zwischen 20 und 30 Millionen pro Jahr liegen die Schätzungen.

Touristen, die keine Unterkunft in Venedig gebucht haben, sollen drei Euro zahlen. 2020 sollen es schon sechs Euro sein. Je nach Andrang soll die Gebühr flexibel steigen oder sinken. Hotelgäste zahlen ohnehin schon eine Ortstaxe. Die Kommune rechnet heuer mit etwa drei Millionen Euro Einnahmen. Die Reinigungskosten in der historischen Altstadt seien um 30 Millionen Euro höher als in anderen Städten – auch, weil die historische Altstadt täglich „per Hand gefegt“ werde, sagte Brugnaro.

Übertourismus, auf Englisch „Overtourism“, ist vielerorts zum geflügelten Wort geworden. Es ist die Steigerung von Massentourismus. In Dubrovnik in Kroatien sind es die Kreuzfahrttouristen, die schwarmartig über die Adria-Stadt herfallen. Zwei Millionen Touristen verstopften jedes Jahr die Altstadt. Dubrovnik selbst hat 40 000 Einwohner. Seit vergangenem Jahr dürfen nur noch zwei Kreuzfahrtschiffe am Tag anlegen, nur maximal 5000 Touristen an Land gehen.

In der spanischen Metropole Barcelona kam es sogar schon zu Übergriffen. Vor zwei Jahren stoppten Vermummte einen voll besetzten Reisebus, zerstachen die Reifen und sprühten den Satz „Tourismus tötet die Stadtteile“ auf die Windschutzscheibe. Barcelona hat ebenfalls die Zahl der Kreuzfahrtschiffe begrenzt – und droht allen, die illegal Ferienwohnungen anbieten, mit Geldstrafen.

In Amsterdam kommen auf einen Einwohner 25 Touristen pro Jahr, Tendenz steigend. Die niederländische Hauptstadt hat deshalb die Touristensteuer erhöht – und versucht, die Besucher über Themenrouten auf weniger frequentierte Ziele umzuleiten. Ähnliches versuchen New York, Berlin und Mallorca mit speziellen Internetseiten und Apps.

Der Kampf gegen Übertourismus ist schwer, denn die Reiselust steigt weltweit. 1,4 Milliarden Auslandsreisen waren es 2018. Im Jahr 2030 wird die Schallmauer von zwei Milliarden durchbrochen, sagen Experten voraus.

Etwa die Hälfte des Zuwachses wird auf chinesische Touristen entfallen, schätzt das China Outbound Tourism Research Institute in Hamburg. Die Mittelschicht dort wächst, die Reiselust ist groß. Chinesen sind klassische Pauschalreisende, die in großen Gruppen konsequent die Sehenswürdigkeiten abklappern. Häufig gehen sie mit der Natur weniger sorgsam um als viele Europäer.

Vergangenes Jahr zogen die Behörden beim Strand Maya Bay auf der Insel Ko Phi Phi Leh die Konsequenzen. Die Massen an Schnorchlern hatten den Korallen schweren Schaden zugefügt. Der Strand, an dem der Film „The Beach“ mit Leonardo DiCaprio gedreht wurde, wurde geschlossen – auf unbestimmte Zeit. 77 Prozent von Thailands Korallenriffen seien schwer beschädigt, sagt Thon Thamrongnawasawat, Meeresökologe an der Kasetsart-Universität in Bangkok. Vor zehn Jahren seien es nur 30 Prozent gewesen.

Übertourismus nervt nicht nur die Einwohner, sondern auch viele Reisende. Mehr als jeder zehnte Reisende weltweit fühlt sich laut einer Studie durch die Besuchermassen gestört. „Es ist notwendig, das Wachstum besser zu steuern“, sagte Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbands (DRV) jüngst.

Jedoch hält die Reisebranche die eigenen Möglichkeiten für begrenzt und verweist auf Portale wie Airbnb. Laut Fiebig stellt Airbnb in Barcelona bereits drei Viertel aller Unterkünfte. Als weitere Gründe für Übertourismus nennen Experten die starke Zunahme der Auslandsreisen, Billigflüge und die Tatenlosigkeit vieler Ferienziele.

Deutsche Touristen würden offenbar Kompromisse eingehen. Laut einer Studie der Hochschule Kempten würde jeder dritte Befragte Besuchsobergrenzen akzeptieren. In einer anderen Umfrage erklärten 67 Prozent, sie seien bereit, Reisen auf andere Jahreszeiten zu verschieben, würde so Überfüllung vermieden. 59 Prozent würden auch ein anderes Ziel wählen, um weniger andere Urlauber anzutreffen. An den Schulferienzeiten für Familien mit Kindern kann aber auch die größte Bereitschaft nichts ändern.

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