Fukushima und die Angst acht Jahre danach

von Redaktion

Vor acht Jahren hielt die Welt den Atem an: Ein Erdbeben zerstörte das Kernkraftwerk in Fukushima. hochradioaktive Strahlung trat aus. Der Super-Gau. Noch immer leben die Menschen dort in Angst. Welches Gemüse ist essbar? Wie hoch sind die Krebsrisiken? Vor allem Eltern zweifeln, dass man ihnen die ganze Wahrheit sagt – und organisieren sich selbst.

VON FELIX LILL

Fukushima – Acht Jahre sind vergangen, seit Kaori Suzuki das letzte Mal Pilze aß, ohne dass ihr dabei bange war. „Ich habe sie geliebt, wie wir alle hier“, sagt sie bedächtig. Pilze sind eine zentrale Zutat in Fukushimas Traditionsküche. „Für meine Kinder habe ich fast jeden Tag etwas mit Pilzen gekocht.“ Kaori Suzuki steht vor einem Computer, der an einen Metallkanister angeschlossen ist, in dem Lebensmittel liegen. Suzuki sieht sich die Diagramme an, die über den Bildschirm flimmern, schüttelt den Kopf. „Wenn die gelbe Linie deutlich über der roten liegt, ist es gefährlich“, erklärt sie. Dann übersteigt die radioaktive Strahlung des Lebensmittels deutlich die Grundstrahlung im Raum. Der Bildschirm zeigt meist eine zu hohe Strahlung an. Der Fisch, die Pilze, die Süßkartoffeln – nichts davon ist essbar. Fünf Kilo weiterer Lebensmittel werden heute noch geprüft. „Wir erwarten, dass die Mehrzahl verstrahlt ist. Wer das trotzdem isst, hat stark erhöhtes Krebsrisiko.“

Seit dem 11. März 2011 ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. An jenem Nachmittag bebte zuerst die Erde, dann überflutete ein 40 Meter hoher Tsunami die Küste von Nordostjapan. Fast 20 000 Menschen starben. Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi havarierten drei Reaktoren. Radioaktivität trat aus. Die Regierung evakuierte am Ende in einem Umkreis von 30 Kilometern. Bis heute sind 45 000 Menschen noch nicht wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt.

Auch 60 Kilometer südlich der Kraftwerksruine, in der damals nicht evakuierten Großstadt Iwaki, ist die Angst präsent. Die Angst vor radioaktiv verstrahlten Lebensmitteln, vor Krebs. Den Informationen der Regierung trauen viele Menschen nicht. „Wir messen lieber selbst nach“, sagt Kaori Suzuki und führt in Iwaki durch die Klinik, die sie nach der Katastrophe mitgegründet hat. „Hier messen wir Gemüse auf Cäsium. Drüben checken wir nach Strontium.“ Hinter der mit Kinderbildern beklebten Rezeption ist die Arztpraxis. Hier können sich Menschen auf radioaktive Strahlung prüfen lassen. Gerade meldet eine Mutter ihre siebenjährige Tochter für eine Untersuchung an.

Tarachine, so heißt die Klinik, ist einer von mehreren Anlaufpunkten für regierungsunabhängige Untersuchungen. In der ganzen Region sind spendenfinanzierte Organisationen aus dem Boden geschossen, die mit ihrer Arbeit der Regierung auf die Finger schauen. Ihr Antrieb: Misstrauen gegenüber offiziellen Zahlen und Befunden. „Bis auf den Arzt in der Praxis hatte sich bei uns vor einigen Jahren noch niemand mit den Gesundheitsgefahren von Radioaktivität beschäftigt“, sagt Kaori Suzuki. Heute wissen die gut zehn Mütter, die den Betrieb stemmen, über jedes Forschungsergebnis Bescheid. „Und wir sind nicht gerade beruhigt.“

Die offiziellen Untersuchungen in Fukushima zeigen gerade unter Kindern ein erstaunlich hohes Vorkommen von Schilddrüsenkrebs. Nach offiziellen Zahlen werden pro Jahr auf 100 000 Minderjährige nur 0,35 Schilddrüsenkrebsfälle diagnostiziert. Die Untersuchungen von Fukushima dokumentieren 164 Fälle. Für Kaori Suzuki besteht kein Zweifel: „Das hängt mit der Reaktorkatastrophe zusammen.“

Auch Junichi Satou kennt diese Zahlen, aber Sorgen macht er sich keine. Eine halbe Autostunde entfernt von Tarachine erklärt der Physiker im lässigen grauen T-Shirt seinen Schülern, dass alles doch nicht so schlimm sei. Junichi Satou ist Nachhilfelehrer unter anderem für Naturwissenschaften. Seit der Katastrophe wird er oft gefragt, ob es wahr sei, dass Kinder hier häufiger an Krebs erkranken, das Gemüse nicht mehr essbar sei. Regelmäßig hält er auch öffentliche Vorträge, um die Menschen aufzuklären. Satou zieht einen Stapel Zettel aus seiner Tasche, die mit Tabellen und Grafiken bedruckt sind. „Das hier sind die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen über Schilddrüsenkrebs unter Minderjährigen“, sagt er. Zwar sei die Zahl der Krebsfälle in der Tat viel höher als erwartet. „Das heißt aber nicht, dass der Grund die Radioaktivität ist.“

Junichi Satou unterstützt die Haltung der Regierung. Die argumentiert, die Werte seien so hoch, weil noch nie eine so große Untersuchung durchgeführt wurde. Rund 360 000 unter 18-Jährige wurden überprüft, weltweit ohne Beispiel. Die Regierung geht noch weiter. Vermutlich sei die Zahl weltweit höher als bisher angenommen. Ebenso sei das Essen von Fukushima sicher, sobald es im Supermarkt lande. „Die Nahrungsmittel werden durch die Ämter geprüft, bevor sie in den Handel kommen“, sagt Junichi Satou. Unabhängige Messungen von Organisationen wie Tarachine brauche es nicht zwingend. „Es stimmt, dass die Regierung an den ersten Tagen nach der Katastrophe nicht gründlich gemessen hat“, räumt Satou ein. „Um die Strahlung draußen zu messen, haben sie eher weit oben als am Boden gemessen. Dort sind die Werte tendenziell niedriger.“ Mittlerweile seien diese Fehler korrigiert worden. Die zwei Töchter von Junichi Satou kamen erst nach der Katastrophe zur Welt. „Es wäre nicht gut, wenn so eine Kernschmelze ein zweites Mal passieren würde“, sagt der Physiker. „Ich verstehe die Sorgen der Menschen.“ Die Verunsicherung sei aber weit größer als die Gefahr.

Ritsuko Nihei ist verunsichert. Eigentlich im Ruhestand, arbeitet sie wieder als Hebamme. Nihei ist keine Kämpferin für die Wahrheit, sie will nur Sorgen stillen. 130 Kilometer nordwestlich von Iwaki arbeitet sie in der Kleinstadt Aizuwakamatsu. In ihrer alten Klinik habe sie drei Kinder am Tag zur Welt gebracht. „Hier sind es nur ein paar pro Woche, aber dafür ist das Ganze viel intensiver.“ Auch das Geburtsheim Ohisama wurde durch Spenden besorgter Menschen finanziert. Gedacht war es für Schwangere, die Angst vor Radioaktivität hatten. „Viele Frauen schliefen schlecht oder konnten wegen der Unruhe das Kind nicht zur Welt bringen“, sagt Ritsuko Nihei. „Bei uns können sie sich entspannen.“ Die Chefhebamme ist stolz auf das Heim. Noch immer, sagt Nihei, plage viele Frauen die Angst vor strahlungsbedingten Gesundheitsrisiken. „Was wir hier tun können, ist, diesen Frauen die Angst zu nehmen.“

Wann sich Fukushima vom atomaren Trauma erholt, niemand kann es sagen. Auch, weil bis heute niemand weiß, welche Strahlung die Katastrophe tatsächlich hinterlassen hat. Junichi Satou findet am Ende gute Worte für all die Menschen, die sich für eine Debatte engagieren. Er selbst argumentiere nur in Wahrscheinlichkeiten, sagt er. In Fukushima sind die Menschen politisch geworden. Vielleicht, sagt Kaori Suzuki, entstehe gerade eine neue, kritische Öffentlichkeit. Irgendwas Gutes müsse das alles ja haben.

Fukushima ist der Auftakt zu einer dreiteiligen Serie in loser Folge. Lesen Sie im zweiten Teil: Deutschland steigt aus – so läuft der Rückbau im Kraftwerk Isar1.

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