Essenbach – Sebastian Wittmann steht in einer Schleuse, den Blick geradeaus. Er steckt die Hände in zwei Löcher, wartet. Grünes Licht, er ist nicht kontaminiert. Die Schleuse öffnet sich. Zigtausend Mal hat er das schon gemacht. Wittmann, 62, ist stellvertretender Standortleiter im Kernkraftwerk Isar in Essenbach bei Landshut und verantwortlich für den Rückbau. „Scheibchen für Scheibchen wird der Kuchen klein geschnitten“, sagt er, während er in seinem orangefarbenen Overall schier endlose Treppen nach oben hüpft. „Seit der Stilllegung“, sagt er, „ist das Kraftwerk eigentlich nur noch ein Stück Schrott.“ Ein Stück Schrott, das nun dekontaminiert werden muss. Deswegen auch die Schleusen, damit niemand Radioaktivität in schon gereinigte Bereiche bringt. Und natürlich zur eigenen Sicherheit.
Der 11. März 2011 war der Tag, der der Atomkraft in Deutschland den Saft abdrehte. An jenem Tag begann die Katastrophe im japanischen Fukushima. Ein schweres Erdbeben und ein Tsunami trafen das Kernkraftwerk „Fukushima Daiichi“. Es gab mehrere Explosionen, in drei Blöcken kam es zur Kernschmelze. Die Situation: außer Kontrolle. Die Katastrophe erreichte auf der siebenstufigen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse die höchste Stufe 7. Wie viel Radioaktivität in Luft und Pazifik gelangt ist, weiß niemand genau. Die Kettenreaktion reichte aber bis nach Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel kippte die erst wenige Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung und setzte den Atomausstieg durch.
Wittmann erinnert sich noch genau. „Ich habe am 17. März einen Anruf des Geschäftsführers in Hannover bekommen. Er sagte: Herr Wittmann, aus politischen Gründen müssen wir die Anlage heute abschalten. Ich habe die Abschaltung dann eingeleitet.“ Das Ende, von einer Stunde auf die andere, nach 32 Jahren Leistungsbetrieb. „Das war ein echter Niederschlag.“
Nun also baut er zurück, was sein Leben war. Seit 1981 arbeitet Wittmann in dem Kraftwerk, das PreussenElektra gehört. Gebaut hatten es einst die Bayernwerke und die Isar-Amperwerke. Wittmann, Maschinenbauingenieur, hat seine eigene Meinung zum Atomausstieg. Das Kraftwerk sei sicher gewesen, sagt er. „Es war eine rein politische Entscheidung.“ Aber Wittmann ist Profi, kein Haderer. Jetzt heißt es eben Ausstieg. „Es ist eine interessante, nicht weniger herausfordernde Aufgabe.“
Das Treppensteigen hat ein Ende. Wittmann öffnet eine Stahltür, führt durch riesige Räume, in denen es von Kabeln und Rohren nur so wimmelt. Kaum vorstellbar, dass hier jemand den Durchblick hat. Alles muss abgebaut und dekontaminiert werden. Allein das Gebäude wiegt 200 000 Tonnen, dazu kommen 24 000 Tonnen Innenleben. Im April 2017 hat der Rückbau begonnen, so lange dauerte es mit der Genehmigung. Alles ist akribisch geplant. Der Rückbau läuft von innen nach außen. Bis 2032 soll die Anlage entkernt, alles gesäubert und freigemessen sein. Erst dann beginnt der Abriss des Gebäudes. „2040“, sagt Wittmann, „soll hier wieder grüne Wiese sein.“ Auch das benachbarte Kraftwerk Isar 2 soll dann verschwunden sein. Es gehört ebenfalls PreussenElektra und zu einem Viertel der Stadt München.
Nur noch sieben Kernkraftwerke sind in Deutschland in Betrieb. Philippsburg 2 fährt Ende 2019 runter, Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C Ende 2021. Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 folgen Ende 2022. Alle anderen deutschen Kernkraftwerke sind bereits stillgelegt, im Rückbau oder sind schon fertig rückgebaut.
Wittmann ist am Ziel und stoppt. Vor ihm liegt das Abklingbecken, das aussieht wie ein Swimmingpool. Glasklares Wasser, zum Baden ungeeignet. Daneben liegt die Schleuse zum Reaktordruckbehälter, der von hier tief ins Gebäude reicht. Der Siedewasserreaktor ist das Herz des Atommeilers, der gefährlichste Ort im Kraftwerk. Der Ort, an dem die Brennelemente ihren Dienst verrichtet haben. Sie produzieren zwar keinen Strom mehr, aber strahlen weiter vor sich hin. Die Brennelemente wurden durch Schleusen ins Abklingbecken transportiert. Etwa die Hälfte der 1734 Brennelemente ist bereits im Zwischenlager, das sich neben dem Reaktorgebäude befindet. 876 Elemente lagern noch im Becken, man kann sie unter Wasser sehen. Das Wasser kühlt die heißen Stäbe und verhindert wegen seiner hohen Dichte, dass Strahlung austritt. „Wir bereiten gerade die nächste Castor-Beladung vor“, sagt Wittmann. Neun Tage dauert es, einen Behälter zu befüllen. Ende 2019 sollen alle Elemente im Zwischenlager sein. Aber das ist nur ein kleiner Teil der gewaltigen Arbeiten.
Wittmann marschiert weiter. Wieder geht es über Treppen, durch Türen und Hallen. Überall liegen Teile. Am Boden, in Kisten. Was wild aussieht, hat einen perfekten Plan, wie Wittmann beteuert. Wann welches Rohr abgebaut, welches Kabel durchtrennt wird, ist genau festgelegt. Auf jedem Teil befindet sich eine Sprühmarkierung. Pink heißt: steht zum Abbau an. Eine zusätzliche blaue Markierung: der Abbau kann sofort beginnen.
Wittmann betritt die Turbinenhalle. Hier wurde der Strom über heißen Wasserdampf erzeugt. Arbeiter turnen herum. Die Gerüstbauer tragen einen roten Helm, Demontierer einen gelben. Wittmann trägt Weiß. Zufall.
Die Hochdruckturbine ist schon abgebaut, die Demontage der Niederdruckturbine läuft gerade. Überall stehen Kräne, denn was es hier zu wuchten gilt, ist schwer. Viele Tonnen Stahl. Stahl, der anschließend in so kleine Stücke zersägt werden muss, dass er transportiert und dekontaminiert werden kann. Kleine Sägen, große Sägen, gewaltige Umlaufsägen. Sägen ist eine Daueraufgabe im Isar 1. Aber es geht langsam. Stahl ist verdammt hart.
Ein Großteil des Innenlebens ist nur oberflächlich belastet. Über verschiedene Verfahren wird die Oberfläche von Radionukliden gesäubert – Sandstrahlen, Metallkiesstrahlen, Wasserstrahlen, mit Laugenbädern. Die gesäuberten Stücke werden freigemessen. Erst nach mehreren Prüfschritten und einer Abnahme durch Prüfer der bayerischen Aufsichtsbehörde landen sie in Altmetallcontainern. Jeder Schritt wird dokumentiert, die Historie jedes Stücks kann über QR-Codes nachvollzogen werden. „Nichts geht hier verloren“, sagt Wittmann. Eine Milliarde Euro wird der Rückbau am Ende gekostet haben.
Nicht alles kann in den Wertstoffkreislauf zurück. 3400 Tonnen radioaktiven Abfalls bleiben. Ein Endlager für schwach- und mittelbelastete Abfälle ist schon im Bau, das alte Eisenerz-Bergwerk „Konrad“ in Salzgitter in Niedersachsen. Die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle steht am Anfang. Es muss also zwischengelagert werden. Die meisten Zwischenlager werden direkt bei den Kraftwerken errichtet. Eigentümer ist der Bund.
Wittmann steht wieder in der Schleuse. Grünes Licht. Es ist Mittag, sein Weg führt übers Gelände in die Kantine für die rund 500 Mitarbeiter, die noch hier arbeiten. Wittmann isst Hendl mit Kartoffelsalat. Wenn er in Rente geht, wird Deutschland keinen Atomstrom mehr produzieren, wohl aber zukaufen aus dem Ausland. Dass der Ausstieg rückgängig gemacht werden könnte, glaubt er nicht. „Es gibt keinen Plan B.“
Lesen Sie demnächst zum Abschluss unserer 3-teiligen Serie: Deutschland braucht ein Endlager.