Tokio – Japans Premierminister Shinzo Abe wirkt unruhig dieser Tage. Und etwas weniger resolut, wenn Kritik an seiner nationalistischen Politik aufkommt. Die Sache, die ihn beschäftigt, ist von großer Bedeutung. Es geht um einen neuen Namen. Nicht für den Premierminister, den mächtigsten Mann Japans. Sondern für die Amtszeit des völlig machtlosen, aber symbolträchtigen neuen Kaisers. Und damit für ganz Japan.
Am 1. Mai wird der 59-jährige Naruhito den Chrysanthementhron besteigen und zum 126. Tennŏ, also Kaiser der ältesten ununterbrochenen Monarchie der Welt. Sein Vater Akihito (85) dankt wegen gesundheitlicher Beschwerden ab. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Der Kaiser gilt in Japan als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu. Deshalb gab und gibt es in der Geschichte Japans nur eine einzige Kaiserdynastie. Das Kaisertum ist quasi angeboren. Zu Lebzeiten abzutreten, ist eigentlich nicht vorgesehen.
Nicht nur deshalb blickt das Land gespannt auf den Thronwechsel. Denn obwohl der Kaiser für die meisten Japaner im Alltag kaum eine Rolle spielt, ist dieser Übergang wichtig. Mit jedem neuen Kaiser erhält das Land nämlich eine neue Herrschaftsdevise. Am 1. Mai beginnt dann das Jahr eins der neuen Zeit. Nach drei Jahrzehnten verpasst sich Japan so auch ein neues Lebensmotto.
Bei der Suche nach dem Namen läuft die heiße Phase. Am kommenden Montag verkündet die Regierung den geheim von Gelehrten beschlossenen Titel. Das Protokoll ist streng: aus zwei alten chinesischen Schriftzeichen muss sich der Name der neuen Ära zusammensetzen. Er soll sich einfach lesen und schreiben lassen, aber nicht im aktuellen Sprachgebrauch vorkommen. Und er muss für die Ideale Japans stehen.
Behörden, Unternehmen und Massenmedien bleibt dann ein Monat Zeit, um bis zur Inthronisierung Naruhitos ihre Computersysteme auf den neuen Namen umzustellen. Denn japanische Dokumente benutzen nicht den gregorianischen Kalender, sondern die Zählung der aktuellen Ära. Das ist weltweit einmalig. Zwar wurde die westliche Zeitrechnung im Jahr 1873 unter Kaiser Mutsuhito eingeführt, wie Professor Peter Pörtner vom Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität erläutert. Aber die alte verschwand nicht. So laufen sie nebeneinander. Die Kaiserära beginnt mit dem Jahr eins und der Name der Ära prägt die Kaiserepoche vor allem im nostalgischen Rückblick. „Viele Japaner sprechen dann nicht von den 1950er-Jahren, sondern der mittleren Showa-Zeit“, sagt Pörtner. „Showa“, zu Deutsch „Erleuchteter Frieden“, war der Name der Ära von Kaiser Hirohito, der von 1926 bis 1989 auf dem Thron saß. Die Ära Akihitos, die bald endet, heißt „Heisei“ – „Frieden überall“.
Das Thema ist in Japan omnipräsent. Der Rundfunk berichtet aufgeregt, Zeitungen grübeln, welcher Name der kommenden Kaiserzeit besonders gut zu Gesicht stünde, TV-Sender interviewen Leute auf der Straße. Weinhändler bieten Heisei-Flaschen feil, Geschenkgeschäfte verkaufen allen möglichen Heisei-Schnickschnack. Aber über den neuen Namen erfährt man nicht das Geringste. Es herrscht absolute Geheimhaltung.
Das Kaisertum in Japan hat seine ganz eigene Geschichte. „Seit dem 9. Jahrhundert hatten die meisten Kaiser de facto keine Macht mehr“, sagt Professor Peter Pörtner. Regenten-Familien und Militärführer, also Shogune mit ihren Samurai, herrschten. Eine Ausnahme mit großen Folgen war Kaiser Mutsuhito (1867–1912), der die Zeit der Samurai beendete und Japan zum Westen hin öffnete. Das Motto seiner Ära lautete „Meiji“ – „aufgeklärte Herrschaft“. Auch im Zweiten Weltkrieg war der Kaiser bedeutsamer. Der Kaiser war es, der die Kapitulation beschloss und verkündete. Seitdem hat der Kaiser wieder nur repräsentative Funktionen. Sich in Politik einzumischen, ist ihm per Verfassung verboten.
Dennoch hat die Kaiserfrage nationale Tragweite. Für die Japaner ist der Kaiser kein Idol, aber er steht für das Japanische an sich, für Tradition und Kontinuität. Zwar gibt es Gegner des Kaisertums, aber eine öffentliche Diskussion, ob Japan sich noch ein Kaiserhaus leisten will, gibt es nicht. Man stößt sich nicht am Kaiserhaus.
Viele Japaner verbinden ihre eigenen Lebensverläufe mit dem Namen der Ära. „Es fühlt sich so an, als würde nun eine Phase der Geschichte enden“, sagt zum Beispiel eine 62-jährige Rentnerin aus Tokio. „In der Heisei-Zeit habe ich zwei Söhne bekommen und mich scheiden lassen. Und so war die Zeit ja auch allgemein.“ Soll heißen: In den 31 Jahren unter Kaiser Akihito stieg Japans Scheidungsrate, während die Kinderquote fiel. Ihren Namen will die Frau nicht sagen. Das Kaiserthema flößt ihr sichtbar Respekt ein.
Jüngere blicken in die Zukunft: „Ich hoffe nur, dass der neue Name kein Schriftzeichen enthält, das auch in ‚Abe‘ vorkommt“, sagt eine 34-jährige Lehrerin, die ebenfalls anonym bleiben will. Sie sei eine Gegnerin des Premierministers, weil der die pazifistische Verfassung umschreiben wolle, um Japan wieder ein Recht auf Kriegsführung zu verleihen. Die Angelegenheit ist also nicht nur Folklore, sondern auf subtile Weise Politik. Wie findet man einen Titel, der zur aktuellen Zeit passt, aber niemanden vor den Kopf stößt?
Für Premier Shinzo Abe wäre ein erneut pazifistisch anmutender Titel fast schon blamabel. Schließlich ist Abe der Meinung, der grundsätzlich kriegsverneinende Artikel 9 der Verfassung müsse dringend abgeschwächt werden, damit Japan im schwierigen Geflecht Ostasiens als eigenständiger Staat agieren könne. Wiederum wäre ein Name, der eine von Politikern oft heraufbeschworene Dynamik der Nation andeutet, eher unpassend. Schließlich altert Japans Bevölkerung in hohem Tempo, was auch zur Stagnation der Volkswirtschaft beiträgt.
Obendrein muss an den Kaiser gedacht werden, was heutzutage besonders heikel ist. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Kaiser bei der Namensfindung noch ein Wort mitzureden. Doch mit der Nachkriegsverfassung von 1947 hat sich das geändert. „Das Protokoll ist deshalb sehr genau geregelt“, sagt Eiji Miyashiro, Journalist in Tokio und Kaiserhausexperte. „So gibt es auch besonders viel Aufmerksamkeit für das Thema.“
Was den gegenwärtigen Titel Heisei angeht, stellte sich der für Kaiser Akihito als passend heraus. Zeitlebens reiste er in einstige japanische Kolonien in Asien und bemühte sich dort um Versöhnung. Sein Sohn Naruhito ist als Kronprinz mit seiner Sorge um den Umweltschutz sowie die Emanzipation von Frauen aufgefallen. Beide Themen könnten gut zu seinem Motto werden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist ebenso ein Generationenprojekt wie die Gleichstellung der Frau, die in Japan im Vergleich mit anderen Ländern besonders hinterherhinkt.
Umfragen lassen aber andere Prognosen zu. Zwischen Juli 2018 und Januar 2019 wurden gut 1500 Personen befragt, welchen Namen sie für die neue Ära erwarten. Die am häufigsten genannte Schriftzeichenkombination war „Ankyuu“, bestehend aus den Zeichen für „Frieden“ und „lange Zeit“. Also wieder ein pazifistischer Name, und einer, der – zum Leidwesen der Lehrerin aus Tokio – doch mit dem Premierminister zu tun hätte. Das erste Schriftzeichen von Ankyuu steckt auch im Namen „Abe“.