München – Jeden Morgen um 7 Uhr schiebt eine Ordensschwester einen Handwagen mit vielen Kisten Backwaren durch das Glockenbachviertel in München. Es handelt sich um Schwester Elisabeth vom Herz-Jesu-Kloster in der Buttermelcherstraße. Sie holt seit mehr als 20 Jahren täglich bei der Münchner Bäckerei Rischart, die in der gleichen Straße ihre Backstube hat, Ware ab, die am Vortag nicht verkauft wurde. Von Sonntag bis Freitag verteilt die Ordensschwester an der Pforte des Klosters vormittags belegte Semmeln, Gebäck und Brot an Bedürftige. Im Schnitt kommen 90 Menschen: Rentner, Arbeitslose, Geringverdiener. Geprüft wird die Armut nicht: „Wir arbeiten auf Vertrauensbasis und kennen die meisten unserer Kunden“, sagt Schwester Elisabeth.
Oft geht es um mehr als nur um Brot. „Wir haben immer ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte“, sagt Schwester Ulrika, die seit 15 Jahren bei der Verteilung der Backwaren hilft.
Lebensmittel, die sonst im Müll landen, an Bedürftige zu spenden, ist ein Weg, um Verschwendung zu vermeiden. Am bekanntesten sind die Tafeln. Seit über 25 Jahren sammelt die gemeinnützige Organisation Lebensmittel, die sonst in der Tonne landen würden, und verteilt sie an Bedürftige. Über 40 000 Tonnen Lebensmittel werden dadurch alleine in Bayern jährlich vor dem Müll gerettet. Für Supermärkte und Einzelhändler bedeutet die Spende an die Tafel einen Mehraufwand: „Sie müssen die Ware vor Abgabe überprüfen. Die Tafeln nehmen nur einwandfreie Lebensmittel“, sagt Reiner Haupka vom Landesverband Tafeln Bayern. Die Spendenbereitschaft sei aber hoch, Tendenz steigend. Viele große Handelsketten wie Edeka und Rewe geben seit Jahren Lebensmittel an die Tafeln ab.
Trotzdem ist das Ausmaß der Lebensmittelverschwendung in Deutschland immer noch gigantisch. Rund elf Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel landen hierzulande auf dem Müll. In Bayern sind es laut einer Studie aus dem Jahr 2014 rund 1,3 Millionen Tonnen im Jahr. Das entspricht etwa einem Viertel der jährlich konsumierten Lebensmittel ohne Getränke, so eine Studie für das Bundesernährungsministerium. Davon entfallen 61 Prozent auf Privathaushalte, je 17 Prozent auf Industrie und Großverbraucher wie die Gastronomie sowie fünf Prozent auf den Handel.
Jeder einzelne schmeißt zuviel weg – und die Verbraucher zwingen den Handel teilweise zu fragwürdigen Strategien. „Wenn um kurz vor Ladenschluss die Theke leer ist, hagelt es Beschwerden“, sagt Enrico Feßmann, Verkaufsleiter der Münchner Bäckerei Zöttl. Die Folge: Überproduktion, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Was mit den Brezen und Semmeln passiert, die abends liegen bleiben? Obwohl es in den meisten Bäckereien gängige Praxis ist, entschuldigt sich Feßmann fast dafür: Die Ware wird verbrannt und zu Biogas verarbeitet. „Uns gefällt das auch nicht“, sagt er. Deshalb will Zöttl demnächst in München einen „Gutes-von-Gestern“-Laden eröffnen – auch ein Weg gegen Verschwendung, den schon einige Bäckereien beschritten haben. So betreiben die Bäckereiketten Rischart und die Hofpfisterei seit vielen Jahren solche Geschäfte. Der „Gutes von Gestern“-Laden von Rischart ist seit 1991 mitten im Glockenbachviertel. Junge Akademiker-Familien, Kreative und Besserverdiener leben dort hauptsächlich. Die nutzen den Laden genauso, wie Menschen mit kleinerem Geldbeutel. „Es geht viel um Umweltbewusstsein, um die Wertschätzung von Ressourcen“, sagt Nadja Heckl, Verkaufsleiterin bei Rischart.
Ein anderes Verhältnis zu Essen fordert auch der Verein „foodsharing München“. „Viele Verbraucher sind wahnsinnig verwöhnt und greifen nur nach dem Allerfrischesten“, sagt Günes Seyfarth, die Gründerin des Vereins. Seit sechs Jahren holen ehrenamtliche Mitglieder von „foodsharing“ bei Supermärkten, Wochenmärkten, Restaurants, Bäckereien und Caterings Essen ab, das sonst weggeworfen würde. „Das ist allerbestes Zeug“, sagt die 38-Jährige. Mitmachen kann jeder, die „Lebensmittelretter“ sind zwischen 18 und 70 Jahre alt, Studenten sind genauso darunter wie Familienväter und Rentner. 600 Mitglieder sind es in München, deutschlandweit gibt es bereits 36 000 „Foodsaver“, englisch für „Essensretter“.
Der Unterschied zu den Tafeln: Wer Lebensmittel abholt, muss nicht arm sein und darf einen Teil der Sachen für sich behalten. „Es geht in erster Linie darum, dass die Dinge noch gegessen werden“, sagt Seyfarth. Es gibt aber auch Verteilerpunkte in der Stadt, von denen die Lebensmittel an Bedürftige gehen.
Es ist kurz vor 20 Uhr, als Daniel Nagy einen Basic-Biosupermarkt in Bogenhausen betritt. Der 32-Jährige ist „Foodsaver“ und darf heute eine kleine Kiste mit Obst und Gemüse mit ein paar Dellen und braunen Flecken und einigen kürzlich abgelaufenen Milchprodukten entgegennehmen. „Bei uns bleibt nicht viel übrig“, sagt Manuel Zalles-Reiber, Marketing-Leiter bei Basic. Nagy bestätigt, dass bei Bio-Supermärkten wesentlich weniger abzuholen ist als bei konventionellen Handelsketten.
Doch auch dort ist das Thema angekommen. Discounter wie Penny oder Aldi wenden sich mit Hinweisen auf ihren Molkereiprodukten an die Verbraucher, dass die Produkte womöglich auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums verzehrt werden können. Der Handelsverband Bayern verweist auf die intelligenten Warenwirtschaftssysteme, die anhand von Wetterbericht, Ferienzeiten und anderen Parametern berechnen, welche Warenmenge voraussichtlich verkauft wird. In einer Pressemitteilung schreibt Rewe, dass dank dieser optimierten Systeme nur ein Prozent an gemeinnützige Organisationen gehe oder entsorgt werde.
„Ein Prozent kann aber viel sein, wenn man bedenkt, wie viel in den Regalen der Märkte steht“, sagt Günes Seyfarth von „foodsharing“. Ihr Siebensitzer sei nach manchner Abholung bis unters Dach voll mit Essen. „Schade, dass die meisten Verbraucher diese Waren offensichtlich nicht mehr kaufen wollen.“
Viele Supermärkte bieten längst Rabatt-Ecken mit Ware mit kurzer Haltbarkeit und großen Preisnachlässen. Noch weiter geht die Supermarkt-Kette AEZ. In ihren Filialen in Dachau und Fürstenfeldbruck werden in einem öffentlichen Kühlschrank Lebensmittel verschenkt, die am gleichen Tag noch ablaufen. Zugreifen darf jeder – ohne schlechtes Gewissen. „Wir wollen wachrütteln: Leute das sind Lebensmittel, und die wirft man nicht einfach so weg“, sagte die Dachauer Geschäftsführerin Jill Klotz bei der Einführung vor gut einem Jahr unserer Zeitung.
Die Methode findet inzwischen Nachahmer. Auch ein Supermarkt-Betreiber aus dem Kreis Regensburg hat seit Kurzem in seinen zwei Filialen „Foodsharing-Boxen“ aufgestellt. Lebensmittelrettung kommt in Mode. Gut so.