München – Fast zwei Millionen Menschen haben in den letzten fünf Jahren in Deutschland einen Asylantrag gestellt, bei Asylbewerbern aus Nigeria liegt die Anerkennungsquote nicht mal bei zehn Prozent. Am Verwaltungsgericht München werden jedes Jahr tausende Klagen gegen negative Bescheide abgearbeitet (siehe Interview).
Wir haben eine Richterin einen Tag lang begleitet. Sie ist spezialisiert auf Nigeria, das ist das Herkunftsland mit den meisten anhängigen Verfahren am Verwaltungsgericht. Die Richterin will ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Vom Verhandlungstisch aus muss sie prüfen, ob dem Flüchtling bei Rückkehr Tod oder Verfolgung droht. Andere Richter sind spezialisiert auf Fälle aus Afghanistan, Pakistan, Syrien oder Irak. Der Termin am Münchner Verwaltungsgericht ist eine zweite Chance auf ein Leben in Europa.
Sieben Verhandlungen mit Fällen aus Oberbayern hat die Richterin an diesem Tag im Sitzungssaal 2 – er ist so was wie der Maschinenraum der Flüchtlingskrise der Jahre 2014 bis 2016. Hier wird im Akkord gefragt, geträumt, gehofft und enttäuscht.
9.30 Uhr: Kultisten und Menschenopfer
Uche R., 31, ist 2014 aus Nigeria geflohen, weil ihr Onkel Mitglied einer Geheimgesellschaft ist. So hat sie es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erzählt. Sie sollte ihren Bruder als Menschenopfer darbringen. Deswegen ist sie abgehauen, über Italien nach Deutschland. Viermal hat sie davor schon in Italien einen Asylantrag gestellt, einmal in der Schweiz. Europa wollte sie nie haben. Jetzt sitzt sie im Gerichtssaal an der Bayerstraße 30, neben ihr eine Übersetzerin und ihre Tochter Precious, die eine Frisur wie eine Palme hat, hinter ihr die Zuschauerstühle, auf denen niemand sitzt, und ein gerahmtes bayerisches Wappen an der Wand. Vor ihr die Richterin, die fragt: „Wer ist der Vater Ihrer Tochter?“ Uche R. sagt auf Englisch: „Der Vater lebt in Paderborn, aber wir haben keinen Kontakt.“ Sie haben sich auf der Flucht kennengelernt, erzählt sie, in Libyen. Später sagt sie, es sei in Nigeria gewesen – wieder später, es sei in Ghana gewesen. So läuft das am Verwaltungsgericht oft. Die Richter müssen im Halbstundentakt über Schicksale entscheiden. Über Wahrheit, Verwechslungen, Lügen. Ein Asylverfahren ist oft ein professionelles Stochern im Nebel.
„Ich kann nicht zurück“, sagt Uche R. „Das sind Kultisten, vor denen laufe ich doch weg.“ Trotzdem telefoniert sie regelmäßig mit der Großfamilie, so hat sie es beim Bamf erzählt. Ihre Eltern, sagt sie, sind schon vor über 15 Jahren gestorben. Sie erzählt von Zwangsprostitution in Italien und einer Zwangsehe in Nigeria. Die Richterin fragt: „Was bedeutet es für Ihre Tochter, wenn Sie zurückgehen würden?“ Uche R. antwortet: „Sie wollen, dass meine Tochter beschnitten wird. In Europa kann ich sie schützen. In Nigeria nicht.“
Die Anwältin von Uche R. fragt: „Von was könnten Sie in Nigeria leben?“ Uche R. antwortet: „Ich kann Haare machen, aber ich habe keine Zeugnisse. Ich kann mich und meine Tochter nicht ernähren.“ Die Richterin fragt: „Wollen Sie noch was ergänzen?“ Uche R. sagt: „Ich bitte Sie, mir zu helfen, damit ich nicht abgeschoben werde.“
Drei Wochen später erhält Uche R. das vollständige Urteil zugestellt – ihre Klage wird abgewiesen.
10 Uhr: Ein Pastor, der seit 20 Jahren töten will
Alao B. ist 1999 aus Nigeria geflohen, weil ein Pastor ihm erst das Land seines Vaters geklaut und dann gedroht hat, ihn zu töten. So hat er es dem Bamf berichtet. In der Heimat hat er noch Frau und Kind. Die Richterin fragt: „Was würde passieren, wenn Sie morgen nach Nigeria ziehen würden?“ Alao B. antwortet: „Ich würde sterben. Der Pastor ist Politiker und hat Geld.“
Die Richterin fragt: „Wo ist Ihre Frau?“ Alao B.: „Ich weiß nichts von meiner Frau. Aber meine Tochter hat mir erzählt, dass Mama wieder einen anderen Mann hat.“
Die Richterin fragt: „Warum sollte Sie der Pastor heute noch töten wollen?“ Alao B. sagt: „Der Pastor hat das Land mit falschen Dokumenten bekommen.“
Drei Wochen später erhält Alao B. das vollständige Urteil – seine Klage wird abgewiesen.
10.30 Uhr: Ein Migrant, der Migrant heißt
Daniel Migrant, so der kuriose Name, aber sicher unvollständige Name in den Akten, hat am 8. September 2017 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Seine Begründung: Er hat in Nigeria eine Landwirtschaft geerbt. Doch eines Tages ist ein alter Mann, der wie der Teufel aussah, zu ihm gekommen und hat ihn geschlagen. Die Söhne des Mannes arbeiten bei der Polizei. Daniel Migrant erklärte dem Bamf, dass ein Kampf aussichtslos gewesen wäre – deswegen hat er Nigeria verlassen. Er flüchtete nach Italien, dann nach Deutschland. Das Bamf ordnete im Januar 2017 eine Abschiebung nach Italien an, die Abschiebung scheiterte, weil er nicht auffindbar war. Im August 2017 wurde der Bescheid aufgehoben – weil die Überstellungsfrist abgelaufen war. Um 10.45 Uhr sagt die Richterin: „Die Klage wird abgewiesen.“ Daniel Migrant ist gar nicht erst zum heutigen Termin erschienen.
11 Uhr: Kinderwagen im Gerichtssaal
Godwin O. kommt im Kinderwagen in den Gerichtssaal. Er trägt einen lila Trainingsanzug. Geburtsdatum: 2. Oktober 2017. Geburtsland: Deutschland. Er lebt in Oberdolling, Kreis Eichstätt. Seine Eltern sind heute mit nach München gekommen – sie sind Flüchtlinge aus Nigeria, die einen ablehnenden Asylbescheid bekommen haben. Für jedes einzelne Kind kann man Klagen gegen ablehnende Bescheide einreichen, das kommt immer wieder vor. Die Richterin fragt: „Was möchten Sie heute vortragen?“ Die Mutter antwortet: „Wir haben nichts zu sagen.“
Richterin: „Warum haben Sie dann Klage erhoben?“
Mutter: „Er kann doch noch gar nicht sprechen.“
Richterin: „Deswegen hätten Sie als Eltern was vortragen können.“
Mutter: „Ich will, dass meine beiden Kinder hier eine bessere Zukunft haben.“
Richterin: „Was würde passieren, wenn Deutschland Sie morgen nach Nigeria abschiebt?“
Mutter: „Ich habe mein Leben riskiert in der Wüste und auf dem Meer.“
Vater: „Wir gehen nicht zurück in dieses Land. Ich möchte Sie bitten, uns nicht zurückzuschicken. Wir haben hier ein besseres Leben.“
Drei Wochen später erhält Godwin O. das vollständige Urteil – seine Klage wird abgewiesen.
11.30 Uhr: Erfundene Entführung in Nigeria
Josephine A., Jahrgang 1987, aus Nigeria hat im November 2016 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Sie wurde als Schülerin von bösen Menschen entführt, berichtete sie dem Bamf. Sie wurde verschleppt, in ein Haus gesteckt, das wie ein Käfig aussah, und vergewaltigt. Dann ist ein Mann gekommen, der sie gerettet und mit in den Niger genommen hat. Später ist sie nach Italien geflohen, dann nach Deutschland. Die Richterin fragt: „2015, als Sie entführt wurden, waren Sie 28 Jahre alt. Ist es normal, dass man da in Nigeria noch zur Schule geht?“ Josephine A. antwortet: „Ja, wenn man kein Geld hat.“
Die Richterin bohrt immer wieder nach. Wie kam es dazu, dass Josephine A. in der nigerianischen Stadt Lagos ein Visum für Italien beantragt hat, obwohl sie angeblich ins Nachbarland Niger geflüchtet ist? Irgendwann sagt die Richterin: „Diese Geschichte, die Sie beim Bundesamt erzählt haben – ist die wirklich wahr? Denken Sie noch mal nach.“ Josephine A. antwortet: „Nein, entschuldigen Sie, das ist so nicht passiert. Aber diese Frau ließ mich einen Eid schwören, dass ich das so sage. Sie hat mir Haare von meinem Körper genommen. Sie hat gesagt, sie hat einen Friseursalon in Italien und ich soll dort arbeiten.“ Eine Afrikanerin hat sie offenbar nach Europa gelockt, sie hat ihr Hoffnung auf ein besseres Leben gemacht.
Richterin: „Sollten Sie in Italien als Prostituierte arbeiten?“ Josephine A.: „Ja, ich musste in Italien neun Monate als Prostituierte arbeiten, dann bin ich weggelaufen.“
Sie schluchzt, als sie die Geschichte erzählt. Sie hat zwei Kinder in Nigeria zurückgelassen, erzählt sie, acht und fünf Jahre alt. Ein weiteres Kind hat sie in Europa bekommen, sie hat es mit im Gerichtssaal dabei. Im Januar 2017 ordnete das Bamf eine Abschiebung nach Italien an – sie scheiterte, weil sie wegen ihrer Schwangerschaft nicht reisefähig war.
Richterin: „Wer ist der Vater dieses Kindes?“ Josephine A.: „Der wohnt auch hier, der hat ein Problem, der rennt um sein Leben.“ Richterin: „Warum lassen Sie Ihre Kinder alleine in Nigeria zurück?“ Josephine A.: „Ich bin hier, damit sie ein besseres Leben haben.“
Drei Wochen später erhält Josephine A. das vollständige Urteil – ihre Klage wird abgewiesen.
13 Uhr: Der Kläger taucht unter
Remi M. stellte am 3. April 2017 einen Asylantrag in Deutschland. Dem Bamf sagte er, er habe Nigeria wegen der Überfälle der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram verlassen. Sein Vater und seine Schwester seien ermordet worden. Das Bamf hat seinen Asylantrag abgewiesen, weil die Angriffe nichts mit seiner Religionszugehörigkeit zu tun hätten. Dagegen klagte Remi M. Aber zur Verhandlung erscheint er nicht. Er ist untergetaucht. Um 13.16 Uhr sagt die Richterin: „Die Klage wird abgewiesen.“
13.30 Uhr: Eine Palme zur Beschneidung
Chisom A. wurde am 27. Februar 2017 in Deutschland geboren. Der Bub ist nigerianischer Staatsbürger. Das Bamf lehnte am 25. Juli 2017 eine Asylanerkennung ab, da ihm in Nigeria keine Verfolgung oder Schaden drohe. Dagegen klagte die Familie im Namen von Chisom A. Die Verhandlung verfolgt er vom Kinderwagen aus, seine Eltern und seine vier älteren Schwestern sind mit im Saal 2. Die Richterin fragt die Eltern: „Was befürchten Sie, wenn Chisom nach Nigeria zurückkehrt?“
Mutter: „Die Mädchen würden beschnitten werden und ich möchte das nicht.“
Richterin: „Wer würde die Beschneidung vornehmen?“
Mutter: „Die Schwiegermutter.“
Richterin: „Sind Sie beschnitten?“ Mutter: „Nein.“
Richterin: „Was würde passieren, wenn Sie in Ihren Heimatort zurückkehren?“
Vater: „Bei uns wird bei der Beschneidung eine Palme gepflanzt. Wenn die Palme wächst, überlebt das Kind.“
Der Vater hat von 2014 bis 2017 in einem Bauhof einer Gemeinde im Landkreis Altötting gearbeitet. Seit seinem negativen Asylbescheid darf er nicht mehr arbeiten.
Richterin: „Haben Sie in Nigeria gearbeitet?“
Vater: „Ich bin Taxi gefahren – aber ich habe nicht genug verdient, um fünf Kinder zu ernähren.“
Drei Wochen später erhält Chisom A. das vollständige Urteil – seine Klage wird abgewiesen.