München – Ihre braunen Haare hat sie hochgesteckt, nur ein schmaler geflochtener Zopf lugt unter der roten Akte hervor, mit der Jennifer W., 28, ihr Gesicht bedeckt. Vor ihr drängen sich die Fotografen und Fernseh-Kameras im Saal B 277 des Münchner Oberlandesgerichts: Es klickt und blitzt, Jennifer W. zittert. Minutenlang. Vor ihr drängen sich mehr als 30 Journalisten, weitere 50 Personen sitzen im Publikum. Sie alle sind gekommen, um den ersten Prozess gegen eine deutsche IS-Rückkehrerin zu verfolgen, der vor dem Staatsschutzsenat verhandelt wird.
Um 9.41 Uhr erlöst Richter Reinhold Baier die Angeklagte: Als er den Saal betritt, wird es still, Jennifer W. entspannt sich, sie nimmt die Akte vom Gesicht und dahinter zeigt sich plötzlich eine junge Frau, die in einem normalen Büro kaum auffallen würde: schwarzer Blazer, weiße Bluse, dazu trägt W. eine schwarze Rahmenbrille. Sie wirkt fast seriös auf der Anklagebank, aber sie sitzt dort, weil sie eines der schwersten Verbrechen überhaupt begangen haben soll: Mord – als Mitglied einer terroristischen Vereinigung.
Von September 2014 bis September 2015, so lautet die Anklage der Generalbundesanwaltschaft, hatte sich Jennifer W. dem Islamischen Staat angeschlossen. Dort soll sie Mitglied der Sittenpolizei gewesen sein und Zugang zu Kriegswaffen gehabt haben. Später heiratete Jennifer W. einen Iraker, mit dem sie ein versklavtes Mädchen gekauft haben soll, das beide elendig verdursten ließen.
Jennifer W. wirkt blass gestern Morgen, als Oberstaatsanwältin Claudia Gorf die sechsseitige Anklageschrift gegen sie verliest. Doch vor allem wirkt sie rundum verändert: kein Kopftuch mehr, kein Schleier, keine Anmutung einer Kriegerin. Ganz anders wirkte W. noch auf einem Foto in den Ermittlungsakten: Der Blick hart und streng, nur Augen und Mund liegen frei, sonst ist Jennifer W. in Schwarz gehüllt. Selbst enge Angehörige erkennen auf diesem Foto kaum mehr das Mädchen in ihr, das am 20. Mai 1991 in Lohne in Niedersachsen zur Welt kam.
Mit 14 Jahren wurden sie evangelisch getauft, wohnte mit ihrer Mutter im Haus, besuchte das Gymnasium. Doch dann rutschte sie ab: Erst auf die Realschule, dann in die Arbeitslosigkeit, schließlich radikalisierte sich Jennifer W. mit 17 Jahren. Sie trug Kopftuch, wollte für die kurdische PKK kämpfen und konvertierte 2013 zum Islam. Freunden gegenüber prahlte sie – und stellte sich als Märtyrerin dar.
Doch was war nur Gerede, was schon Terrorplan? Damals schwer zu unterscheiden. Bis Jennifer W. im August 2014 nach Syrien reiste. Mit 24 Jahren. Sie wolle im Kalifat des IS leben, schrieb sie in Chats. Später machte sie ihre Ankündigung wahr: Laut Anklage ging W. zunächst in ein Frauenhaus in Jarabulus und dann in die vom IS besetzte Stadt Rakka, wo sie sich der Terrormiliz anschloss. Ab Anfang 2015 soll die Deutsche dann Mitglied der IS-Kampfeinheit Khatab Shistani Katiba geworden sein. Immer tiefer zogen sich danach ihre Kreise in den Terror: Jennifer W. ließ sich mit dem Iraker verheiraten, mit ihm soll sie im Juni 2015 zunächst nach Mossul und dann nach Falludscha gezogen sein. Laut Anklage war sie dort „auf eigene Initiative“ bei der Religions- und Sittenpolizei Hisba tätig. Nach ihrer Ausbildung soll W. drei Monate in Parks patrouilliert sein – bewaffnet mit Pistole, Kalaschnikow und Sprengstoffgürtel, um Frauen zu ermahnen, die gegen Kleidervorschriften verstießen.
Im Sommer 2015 kam es laut Anklage zu dem Mord: In Falludscha soll W. mit ihrem Ehemann eine fünfjährige jesidische Kriegsgefangene gekauft haben. Weil das geschwächte Mädchen auf eine Matratze einnässte, kettete der Ehemann sie mutmaßlich zur Strafe in der sengenden Sonne fest. „Qualvoll“ sei das Kind bei 45 Grad verdurstet, sagte Anklägerin Claudia Gorf. Jennifer W. soll bewusst nicht geholfen haben: Weder löste sie die Handschellen, noch gab sie dem Mädchen zu trinken und ließ ihren Ehemann gewähren. Mord durch Unterlassen lautet nun der Tatvorwurf. Verantworten muss sich die Deutsche vor Gericht auch wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Wird Jennifer W. verurteilt, droht ihr lebenslange Haft.
Bis dahin ist es ein weiter Weg. Vorläufig bis 30. September hat Richter Reinhold Baier den Prozess terminiert. Gestern wurden nur die Anklage verlesen und der nächste Verhandlungstermin abgesetzt. Denn die Ermittler hatten die Mutter des toten Mädchens aufgespürt, die nun umfassende Angaben zum angeklagten Fall gemacht hat. Diese will das Gericht bis zum 29. April prüfen.
Aufgeflogen war Jennifer W. erst im vergangenen Jahr, als sie längst wieder in ihrer Heimatstadt Lohne lebte – völlig unbehelligt, was nur wenigen IS-Rückkehrern gelingt. Doch das Leben in Deutschland fand sie unerträglich, ein Fahrer sollte sie im Juni wieder zurück zum IS bringen – tatsächlich handelte es sich damals aber um einen verdeckten FBI-Agenten, dem Jennifer W. ihre ganze Geschichte erzählte: von der ersten Ausreise, über das Waffencamp bis hin zum Mord an dem Mädchen. Dieser sei „selbst dem IS zu krass gewesen“, soll sie freimütig berichtet haben.
Über ihre erneuten Ausreisepläne wussten die FBI-Ermittler da schon längst Bescheid und informierten die deutschen Behörden. An einer Autobahn-Raststätte in Neu-Ulm endete Jennifer W.’s Reise: Denn das Auto war verwanzt, etliche Ermittler hatten mitgehört und nahmen W. während einer Pause am 29. Juni 2018 fest. Seither sitzt sie in U-Haft.
Ihren Verteidigern Sera Basay-Yildiz und Ali Aydin zufolge gibt es keine Beweise für die Mitgliedschaft bei der IS-Kampfeinheit oder den Mord. Jennifer W. habe vielleicht „nur prahlen wollen“. Entscheidend wird im Prozess daher die Aussage der Mutter werden, die von der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney vertreten wird (siehe Randspalte). Sie steht aktuell unter Zeugenschutz. Durch sie könnte Jennifer W., anders als vorherige IS-Rückkehrerinnen, überführt werden: Wenn bewiesen wird, dass W. eine „aktive Rolle“ bei der IS-Terrormiliz hatte.