Paris – Generalvikar Philippe Marsset ist einer der Ersten, der gestern die Schäden an dem gotischen Meisterwerk in Augenschein nimmt. Das Feuer ist aus, aber über dem Altar steigt noch Rauch auf. Dort, wo am Montagabend große Teile des Dachstuhls und der berühmte Spitzturm eingestürzt sind. Das Kreuz auf dem Altar steht noch. Ein stummer Zeuge der Verwüstung. „Es war die Hölle“, sagt der 61-Jährige über das Feuer, das kurz nach der Abendmesse ausbrach. „Aber wir lassen uns nicht in die Knie zwingen. Diese Kirche wurde vor gut 850 Jahren gebaut. Sie hat Kriege überstanden und Bomben – Notre-Dame übersteht alles.“
Waltraud Drexler darf nicht in die Kirche. Sie ist Touristin. Die 65-Jährige aus dem badischen Rheinstetten trauert am Dienstag mit den Franzosen. „Es wird viele Jahre dauern, bis das wieder aufgebaut ist“, sagt sie und zeigt Fotos vom Inneren der Kirche mit ihren leuchtenden Rosetten. Die Bilder hat sie am Montag aufgenommen. Sie wollte mit ihrem Lebensgefährten eigentlich auf den Turm steigen, bekam aber keinen Einlass mehr. Jetzt ist nur noch ein verkohltes Baugerüst an der Stelle zu sehen, wo der Spitzturm stand. „Von daher berührt es uns auf besondere Weise“, sagt Drexler.
Der Pariser Kunststudent Christophe Provot hat die ganze Nacht in der Nähe „seiner“ Kathedrale verbracht. So wie viele Pariser. In dichten Reihen standen sie am Ufer der Seine, Tränen flossen. Christophe Provot ist Katholik. Mit anderen Gläubigen hat er gebetet und gesungen, während die Flammen aus dem Dach schlugen. „Unsere Bitten sind erhört worden: Sie wird aufrecht bleiben“, sagt der 25-Jährige mit glänzenden Augen und blickt auf die intakte Fassade seiner geliebten Dame. Die Hoffnung, sie lebt nach dem Inferno. Auch andere Kirchen sind nach Katastrophen wieder- auferstanden. Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche etwa hat 183 Millionen Euro gekostet. Für Notre-Dame ist bereits ein Mehrfaches an Spenden zugesagt.
„Das Geld ist da“, sagt auch Tourist Jürgen Kind aus Karlsruhe. Mit anderen Schaulustigen steht er an der Seine. Er kann sich sogar vorstellen, dass auf dem Dach von Notre-Dame etwas ganz Neuartiges entsteht – „wie in Berlin im Reichstag, wo Norman Foster die Kuppel gebaut hat“.
Der Schock geht über Frankreich hinaus. Millionen Menschen fühlen sich auf ihre Weise persönlich berührt. Einer ist Ulrich Wickert, der frühere Moderator der „Tagesthemen“ und anerkannte Frankreich-Kenner. „Es sind mir ganz viele Dinge durch den Kopf gegangen“, sagt Wickert. „Persönliche Erinnerungen. Ich bin zum ersten Mal 1956 in der Kirche gewesen, weil ich damals ja in Paris zur Schule gegangen bin.“
Wenn der 76 Jahre alte Journalist heute in Paris ist, geht er für gewöhnlich zu Fuß – und wann immer es sich anbietet, nimmt er den Weg an Notre-Dame vorbei. Notre-Dame sei Teil der französischen Identität, sagt Wickert. Der Schock für die Franzosen sei entsprechend groß. „Das hat man an dem Abend gesehen. Tausende standen um die Île de la Cité herum und haben entweder geschrien oder geweint. Und dann in der Nacht haben Tausende plötzlich angefangen, Kirchenlieder zu singen. Alle vereint. Wann tut man das?“ Wickert ist davon überzeugt, dass das Feuer die Franzosen zumindest vorübergehend einen kann. „Durch dieses Ereignis ist plötzlich jede Spaltung weg, alle sind in der Trauer eins.“
In Paris stehen nun die Ostertage an. Generalvikar Marsset weiß noch nicht, wie er diese verbringen wird. „Für diesen Mittwoch, Donnerstag und Freitag hatten wir Feiern geplant“, sagt er bedauernd. Für gläubige Christen ist Ostern das Fest von Tod und Wiederauferstehung. Auch Notre-Dame wird aus den Flammen auferstehen, da sind sich die Pariser sicher. Aus vielen Mündern ist an diesem Tag ein Wort zu hören: „Wunder“.