Der Tod des Bruders prägte Theo Waigels Leben

von Redaktion

„Es waren spannende Jahre“, sagt Theo Waigel über sein Leben. Er übertreibt nicht. Waigel regierte mit Kohl und stritt mit Strauß, er erfand den Euro mit und wurde dennoch nie Europa-Träumer. Am Ostermontag wird er 80. Ein Treffen in seinem Wohnzimmer.

VON CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

Seeg – Als Theo Waigel nach einigen Minuten zurück in sein Wohnzimmer kommt, in der Hand einen dünnen Aktenordner, da hat er sich verändert, kaum merklich. Die Stimme ist plötzlich etwas dünner, beinahe brüchig. Mit vorsichtigen Bewegungen faltet er den Ordner auf, den er schon hunderte Male in der Hand hatte. „Briefe August Waigel“ steht schwer leserlich mit Bleistift auf dem Ordnerrücken, „1943 bis September 1944“.

Er blättert langsam durch die Seiten. Seine Finger streichen vorsichtig Seite um Seite über die Feldpostbriefe seines Bruders Gustl aus dem Zweiten Weltkrieg. Es sind 61 zumeist kurze Briefe eines 18-Jährigen über den Alltag an der Westfront, Zeilen von Heimweh, von Verlorenheit. „Grüße an euch alle, besonders an Theo“, steht unter manchen. Brief 61 ist mit schwachem Stift auf dünnes Papier gekritzelt. „Wie es hier jetzt steht, wisst ihr ja selber.“ Und: „Hoffentlich nimmt dieser Krieg bald ein Ende.“ Das Datum zeigt den 24. September 1944.

Noch einmal umblättern. Dann ist da Feldpost Nr. 05414, drei Seiten, ein Schreiben des Vorgesetzten an die Eltern Waigel. „Den Heldentod erlitten“, „im Flammengrab“ Ende September, „treu seinem Fahneneid“.

Theo Waigel war ein Kind damals, erinnert sich nur noch in Bruchstücken an den großen Bruder Gustl. Aber noch genau an den Herbsttag, an dem die Todesnachricht im Hause eintraf, als die Mutter zusammenbrach. Er räuspert sich, legt den Ordner aus der Hand. „Diese Briefe haben mich sehr bewegt.“

Wer Theo Waigel zu verstehen versucht, wer zum 80. Geburtstag seine politische Motivation ergründen will, der kann in diesen 61 Briefen des Bruders Gustl viel erfahren. Und in den Reisen, die Theo Waigel 1993 und 1994 ins Elsass führten, nach Niederbronn, auf einen Soldatenfriedhof. Hier, Block 25, Reihe 9, Grab 1978, wurden einst die stark verkohlten Skelettreste eines namenlosen deutschen Soldaten bestattet. Anfang der 90er ermittelte die Deutsche Kriegsgräberfürsorge, dass dieses Grab zu Gustl gehört. Als Theo Waigel 1993 das erste Mal auf diesem Friedhof stand, wartete dort ein französischer Minister auf ihn, um ihm die Hand zu drücken und Trost zu spenden.

„Das heute so etwas möglich ist, dass man sich über Gräber hinweg begegnet“, sagt Waigel leise. Er wolle da nichts instrumentalisieren, es gehe nicht um einen, sondern um Millionen Tote des Weltkriegs. Und, etwas lauter, sagt er in sein Wohnzimmer hinein: „Mein Gott, nehmt doch mal zur Kenntnis, in welch toller Welt wir heute leben.“

In einer Welt, in der sich Mitteleuropas Nachbarn seit 74 Jahren nicht mehr bekriegen. Die Briefe Gustl Waigels sind ein Zeugnis der Sinnlosigkeit von Krieg und Nationalismus. Und auch ein bisschen Grundlage für das, was Bruder Theo später gestaltete. „Wenn es eine EU 1914 und 1930 gegeben hätte, wären uns zwei Weltkriege erspart geblieben“, sagt er.

Waigel hat diese Union mitgeformt. Er gilt heute als „Vater des Euro“, als der Politiker, der die gemeinsame Währung prägte, die heute bei allen Fliehkräften ein wenig dazu beiträgt, den Kontinent zusammenzuhalten. Auf jeden Fall hat er der Währung ihren Namen gegeben. Als Bundesfinanzminister in der Regierung von Helmut Kohl (CDU) schlug er 1995 den Begriff „Euro“ vor. Mehr und mehr Politiker aus anderen Ländern folgten. Waigel trägt seither den Spitznamen: „Mister Euro“. Meist ehrenvoll gemeint, aber auch nicht immer. Jene, die der D-Mark nachtrauern, hadern bis heute mit Waigel; sicherheitshalber steht an seiner Haustür bis heute kein Name, die Fenster sind dick. Es sind auch Relikte aus der RAF-Zeit, als Waigel mitunter ganz oben auf den Todeslisten stand und die Polizei die Wälder hinter seinem Haus nach Terroristen absuchte.

Nein, ein europäischer Träumer ist Waigel dabei nicht geworden, war er auch nie. Den Ideen der „Vereinigten Staaten von Europa“, also der Aufgabe der Nationalstaaten, hängt er nicht nach. „Die Zeit ist noch nicht reif“, sagt er, „die Nationen bleiben bestehen, die nächsten 15, 20 Jahre, vielleicht auch länger.“ Sein Ziel ist ein Europa der Vaterländer. Er blickt nicht verträumt auf Brüssel. Fehler benennt er fast zornig. „Natürlich ärgere ich mich in Europa über vieles. Auch über uns selber. Wie konnte man Griechenland aufnehmen?“, schimpft er dann über die Euro-Politik. Oder über das Aufweichen des Stabilitätspakts – „eine Todsünde!“

Draußen vor den hohen Wohnzimmerfenstern im Dorf Seeg ziehen Wolken vor die Allgäuer Alpen, sie verdecken Alpspitze und Edelsberg, die Gipfel, die der junge Ministrant Theodor 1950 zum ersten Mal erklomm. Die Wolken kommen und gehen. „Wenn ich ned so gut gelaunt bin“, sagt er, „was aber nicht so oft vorkommt, dann beruhigt mich der Blick.“

Aufgewachsen ist er als Sohn eines Kleinbauern in Oberrohr, Nordschwaben. Dass er mal auf eine höhere Schule gehen durfte, musste der Vater gegen Widerstände entscheiden. Die Lehrer in der Volksschule waren dagegen, die Mutter weinte, „der Pfarrer sagte, die Omnibusfahrt nach Krumbach berge sittliche Gefahren“.

Waigel meisterte die Oberrealschule, studierte Jura in Würzburg, ging in die Politik, 1972 in den Bundestag. „Es ist ein spannendes Leben gewesen“, sagt er. Es führte ihn an die Seite Kohls durch die Jahre der deutschen Einheit, später der europäischen Integration. Waigel ist letzter hochkarätiger Zeuge dieser Ära.

Heute sieht man ihm die nahenden 80 wahrlich nicht an, leutselig ist er, eloquent. Die dichten Augenbrauen, sein Markenzeichen, sind wie immer buschig, nicht struppig. Die linke ist an diesem Tag schwungvoll und steil nach oben gebogen. Geföhnt? Ach was, gewachsen. Die Ratgeber, die Waigel im Lauf der Jahre empfahlen, dies und das mit den Brauen zu unternehmen, überhörte er allesamt. „Etliche gut gemeinte Versuche, den Wildwuchs zu zähmen, habe ich abwehren müssen.“

Mit Waigel zu sprechen, heißt, sich auf einen wilden Ritt durch die Jahrzehnte einzulassen. Nicht, weil er im Alter die Jahre durcheinanderwürfelte – im Gegenteil, mit fotografischem Gedächtnis erzählt er aus der Innensicht von Momenten der deutschen Geschichte. Doch er ordnet anders, nach Personen, Themen, nicht nach Zeitstrahlen, und fordert seine Zuhörer intellektuell enorm.

Über Freunde und Feinde spricht Waigel, vor allem darüber, dass es in der Politik diese Trennschärfe fast nie gab. „Manches an harter Abneigung hat sich geändert“, berichtet er. „Hab ich den Helmut Schmidt dick gehabt“, ruft er über den Ex-Kanzler. „Tja – später habe ich ihn x-mal in Hamburg besucht.“ In Waigels Unterlagen liegt ein Brief des SPD-Politikers, hanseatisch, aber herzlich. „Freue mich, in Ihnen einen Freund in Bayern zu haben.“

Sekunden später der Sprung zu Franz Josef Strauß. Mit bellender Sprache imitiert Waigel den Duktus. Auch hier wuchs aus Widerspruch Respekt. Ein Teil der Bonner habe bei Strauß’ Tiraden stets „den Kopf eingezogen und gehofft, der Alte wird es schon wieder vergessen“. Waigel sagt, er habe gern widersprochen. „Er hat sich lang über mich geärgert. Dann hat er respektiert, dass ich ihn nicht anlüge, nichts vortäusche.“ Beim Kreuther Trennungsbeschluss zum Beispiel, jenem Fast-Zerwürfnis von CSU und CDU 1976. Waigel stritt energisch dagegen. In seiner Biografie, vor einigen Tagen erschienen, kann man die historischen Zorn-Dialoge in der CSU heute nachlesen; Waigel protokollierte als einziger mit.

Kurz vor seinem Tod erst bot Strauß dem Parteifreund das „Du“ an. Heute noch, sagt Waigel, träumt er alle paar Wochen von Strauß. „Aber immer gutmütig.“ Nicht über alle spricht er allerdings so versöhnlich. Das Verhältnis zu Edmund Stoiber ist nach wie vor schwer belastet.

Die Zeit ist schnell vergangen in Seeg, im Wohnzimmer Waigels. Er greift nach dem schmalen Ordner, nach den Fotoalben, der Wehrpass des blutjungen Gustl rutscht heraus und liegt auf dem Tisch. Wieder ein Moment der Nachdenklichkeit, des Innehaltens. „Nichts bleibt von selbst bestehen“, sagt Theo Waigel leise. „Alles ist gefährdet.“

Theo Waigel:

Ehrlichkeit ist eine Währung Econ-Verlag, 352 S., 24 Euro

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