Murnau – Manchmal wird es anstrengend. Aber Dr. Oliver Michael, 51, ist ein geduldiger Mensch und er liebt seinen Beruf. Er leitet seit 17 Jahren eine Kinderarztpraxis in Murnau, Kreis Garmisch-Partenkirchen. Die 12 000-Einwohner-Gemeinde gilt deutschlandweit als Hochburg der Impfgegner. Nur 84 Prozent der Kinder im Landkreis Garmisch-Partenkirchen haben bei Schuleintritt zum Beispiel zwei Masernimpfungen erhalten, so der Gesundheitsreport Bayern von 2018. Bayernweit sind es 92 Prozent. Um die Krankheit zu eliminieren, dem erklärten Ziel der Weltgesundheitsorganisation, bedarf es einer Impfquote von 95 Prozent. „Unsere Impfquote ist tatsächlich nicht berauschend“, sagt Stephan Scharf, Sprecher des Landkreises.
Die echten Verweigerer kommen selten in seine Praxis, sagt Dr. Michael. Doch häufig hat er es mit impfkritischen Eltern zu tun. „Die sind mir sehr lieb“, sagt der Arzt. Er weiß, dass die Eltern das Beste für ihre Kinder wollen und sich deshalb Gedanken machen. Sie sitzen mit ihren drei Monate alten Babys vor ihm und haben Angst vor der Spritze, die den Stoff aus abgeschwächten oder abgetöteten Krankheitserregerteilen enthält, über den so viele Mythen kursieren (siehe Interview).
Er kennt die Sorge vor akuten Impfreaktionen, vor einer Überforderung des Immunsystems, vor den noch mehr gefürchteten Impfschäden und der wissenschaftlich nicht bewiesenen Behauptung, Impfen könne Autismus auslösen. Oft mache er die Erfahrung: „Das Wissen über mögliche negative Aspekte des Impfens ist groß, das über Krankheiten nicht.“ Psychologisch kann er sich die Impfmüdigkeit durchaus erklären: „Man macht lieber etwas nicht, bevor man etwas falsch macht.“
In Murnau gibt es überdurchschnittlich viele Alternativmediziner und Heilpraktiker. „Dort gehört es oft zum guten Ton, nicht impffreundlich zu beraten“, sagt Dr. Michael. Doch Eltern, die glaubten, Händewaschen und Stillen schütze vor Krankheiten, kläre er auf: „Die Natur ist unbarmherzig.“
Er erzählt dann von Krankheiten, die tödlich sein können wie Tetanus. Oder über die Hämophilus-Influenza Typ B, die vielen Eltern nichts mehr sagt. „Die Erkrankung kann zwar mit Antibiotika behandelt werden, aber es können sich lebensbedrohliche Komplikationen entwickeln wie Hirnhaut- oder Kehldeckelentzündungen.“
Dr. Michael spricht auch über die Gehirnentzündung, die eine Masernerkrankung als Spätfolge haben kann. Die Krankheit ist unheilbar und fast immer tödlich. Er verschweigt aber auch Impf-Risiken nicht und weist auf die soziale Verantwortung hin, den Gemeinschaftsschutz durch Impfen intakt zu halten. „Ich baue keinen Druck auf, sondern versuche, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen.“ Zwei Stunden nehme er sich dafür schon mal. Es sei mühsam: „Doch oft ist Impfbereitschaft da, wenn die Eltern gut aufgeklärt werden.“ Das Problem: Entscheiden sich die Eltern gegen eine Impfung, bekommt er für die Beratung keinen Cent. „Honorar gibt es nur für erfolgte Impfungen.“ Seine Verzweiflungsmomente: „Wenn Arzt-Kollegen mit Kindern sich gegen Impfungen entscheiden.“ Sie seien Multiplikatoren, die andere impfmüde Eltern bestätigten.
Sarah Anderhofstadt, 34, ist Zahnärztin. Sie kennt die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts und würde sich nicht als Impfgegnerin bezeichnen. Dennoch wollte sie ihren Sohn Felix, 2, nur gegen Tetanus impfen lassen. Bei ihrem Kinderarzt im Kreis Günzburg stieß sie auf Unverständnis. So nahm sie die 100 Kilometer nach München auf sich, um sich vom bekannten Kinderarzt Dr. Martin Hirte, 64, beraten zu lassen. Er ist Mitglied im Verein „Ärzte für individuelle Impfentscheidung“, schrieb ein umstrittenes Buch zum Thema und betreibt eine Privat- und Selbstzahlerpraxis. Er lässt sich für seine Impfberatungen bezahlen und geht auf Elternwünsche ein.
„Empfehlungen sind Empfehlungen. Eltern haben das verfassungsmäßige Recht, selbst zu entscheiden“, sagt er. Er habe Eltern getroffen, deren Kinderarzt gedroht habe, nicht mehr zu behandeln, wenn sie ihr Kind nicht nach STIKO-Kalender impfen lassen. Oder Familien, deren Kinderkrippe einen Antikörpernachweis aus dem Blut des Kindes als Impfbeleg forderte. „Das geht zu weit.“
Die Notwendigkeit der Masern- und Tetanusimpfung erkennt Dr. Hirte an. Nur beim Impfzeitpunkt weicht er von den STIKO-Empfehlungen ab. „So früh wie möglich ist nicht immer der beste Zeitpunkt.“ In anderen Ländern gebe es ja auch größere Zeiträume für die Durchimpfung, die Empfehlungen bezüglich Impfens unterscheiden sich sowieso in den europäischen Ländern. Ein individuellerer Umgang sei deshalb möglich. Weitere seiner Thesen: Impfempfehlungen beruhen auf Studien der Impfstoffhersteller ohne unabhängige Prüfung. Allergien durch Impfungen könne man nicht ausschließen.
Impfkritisch sei er, ja. Aber oft fühle er sich als Impfgegner gebrandmarkt:. „Ich impfe. Aber nicht gegen den Willen der Eltern.“
Sarah Anderhofstadt hat nach Dr. Hirtes Beratung ihren Sohn Felix gegen Diphterie, Polio und Tetanus impfen lassen. Bei Masern, Mumps und Röteln entschied sie, das Erkrankungsrisiko einzugehen. „Ich werde impfen, wenn er die Infektionen bis zur Pubertät nicht durchgemacht hat.“ Alle anderen Impfungen hält sie für überflüssig. Sie ist strikt gegen eine Impfpflicht: „Ärzte wären in der Zwickmühle und würden sich strafbar machen, wenn sie nicht impfen.“
Auch der Murnauer Kinderarzt Dr. Michael hält – wie viele Experten – nichts von einer Pflicht: „Das würde den Argwohn vieler Eltern noch beflügeln.“ Gute Beratung sei besser, um die Impfbereitschaft zu erhöhen. Dann fügt er nachdenklich hinzu: „Aber Eltern gehen natürlich zu den Experten, die das sagen, was sie hören wollen.“