Deutschlands fast vergessener Krieg

von Redaktion

Seit bald zwei Jahrzehnten sind deutsche Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Inzwischen darf man es Krieg nennen, und die Lage wird nicht einfacher. Die Bundeswehr kämpft jetzt weniger, berät mehr. Zuhause gerät ihr Einsatz aber in Vergessenheit.

VON CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

Kabul – Zwischen Leben und Tod liegt eine hauchdünne Linie. Mit bloßem Auge ist sie kaum zu erkennen auf dem Bildschirm. Noch ein Blick, näher, genauer: ein Strich auf der Schotterstraße. Ein altes Seil? Ein Stock im Staub? Wenn der Stabsfeldwebel am Computer jetzt misstrauisch wird, rettet er ein paar Menschenleben. Er lässt die Heron-Drohne, die das Livebild sendet, in drei Kilometer Höhe über der Straße kreisen. „Hier“, sagt er und zeigt auf den Strich. Es ist das Kabel einer vergrabenen Sprengfalle. Wenig später soll eine afghanische Armeepatrouille über diesen Weg rollen. Der deutsche Soldat schlägt Alarm.

Es ist eine tödliche Bombe, aufgebaut von Taliban-Kämpfern. Der Sprengsatz soll am ersten Fahrzeug zünden. 300 Meter entfernt hinter einer Steinmauer, für die Patrouille unsichtbar, lauern zwei Taliban mit einem Maschinengewehr im Anschlag, um Soldaten auf den hinteren Fahrzeugen zu töten. Auf dem deutschen Bildschirm ist auch diese Falle mit einem geübten Blick und einer Wärmebildkamera zu erkennen.

Ernstfall, keine Übung. So ist der verstörende Alltag in diesem immerwährenden Krieg. Die afghanische Patrouille wird diesen Tag dank deutscher Hilfe überleben, die Warnung kommt per Funk. Zur bitteren Realität gehört: Hätte es den Konvoi erwischt, drei, acht, zwölf tote Afghanen, wäre das nirgendwo auf der Welt eine Meldung wert gewesen. Hier sterben im Schnitt jede Nacht ein Dutzend Soldaten, manchmal eine halbe Kompanie. Auf den Bildern ist später zu sehen, wie die zwei Kämpfer mit dem Maschinengewehr wieder abziehen, in einem Haus verschwinden. Den nächsten Anschlag planen. 40 Kilometer Luftlinie entfernt von den Deutschen.

Über Nordafghanistan drehen die grauen Drohnen fast unsichtbar, unhörbar, ihre Runden. Unten, neben dem Flughafen, liegt das deutsche Feldlager „Camp Marmal“ bei Masar-e-Scharif, eine hochgesicherte Kleinstadt aus Containern, ein Provisorium für die Ewigkeit. Hier lenkt ein Soldat die Drohnen per Mausklick, ein anderer wertet die Bilder aus, sucht mit den hochauflösenden Kameras seltsame Kabel, frische Grabungen, auffällige Menschengruppen. Das Büro der Drohnen-Auswerter mit ihren Entscheidungen zwischen Leben und Tod sieht nicht viel anders aus als der Container ein paar Meter weiter, wo neue Dienstsocken und Stiefel verwaltet werden.

Staub weht durch das Feldlager. Durch die Container und Bunker wabern militärische Fachbegriffe. Oberstleutnante berichten täglich über die Aktivität der „Insurgenz“, das sind die Taliban, über die eigenen „Kräfte“, über den Einsatz „nichtkinetischer Wirkmittel“. Für all das hatte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2010 mal ein klareres Wort gefunden, rückblickend wohl das beste aus seiner Amtszeit: „Krieg.“

Die deutsche Beteiligung an diesem Krieg hat eine neue Phase erreicht. Anfangs dachten viele Deutsche, die Bundeswehr rücke zu einer Art Nato-Brunnenbohren aus. Daraus wurde der erste Kampfeinsatz in ihrer Geschichte, weit über 50 Gefallene. Jetzt steckt die Bundeswehr in einem komplett neuen Mandat: Die bis zu 1300 Soldaten sollen nicht mehr selbst kämpfen, Schüsse nur noch in Notwehr, sondern sie sollen die afghanische Armee und Polizei ausbilden. „Train, assist, advice“ tauften das die Militärrhetoriker. Die Deutschen bekämpfen nicht mehr die Taliban, sie schulen die Armee des Gastlandes dafür.

Die Drohnen sind ein Element der Hilfe, und auch Teil des Eigenschutzes. Der Kern der Mission sind 75 Berater („Adviser“) für afghanische Truppenführer. Es geht um hohe militärtaktische Fragen. Und oft um Basiswissen: Konvois, Fußpatrouillen, Vermeiden von Hinterhalten. Immer wieder werden Armee-Checkpoints nachts von gut ausgerüsteten Taliban überrannt.

Armin S., einer der Trainer, steht mit 25-Kilo-Schutzweste abfahrbereit für den Einsatz in einer nahen Kaserne. „Das Ansehen der Beraterteams ist enorm hoch“, erzählt er. Die Deutschen und mehrere andere Nationen schicken ihre Spezialisten an den Hindukusch. Der Aufwand ist allerdings enorm. Die Deutschen schützen ihre Berater mit bis zu 25 Mann. Jeweils ein Nahsicherer weicht dem Ausbilder keinen Meter von der Seite, sobald er Camp Marmal verlässt. Anreise in fünf schwer gepanzerten „Dingos“, Maschinengewehr und Nebelgranaten abschussbereit, oder gleich im Formationsflug per Hubschrauber.

Der Erfolg schwankt. Das Training der Spezialeinheiten laufe sehr gut, berichten Soldaten; die Abstimmung mit der kleinen neuen afghanischen Luftwaffe auch. Die Ausbildung der normalen Truppenteile ist aber zäh. Oft fehlen Grundlagen. Ein deutscher Militärführer berichtet von mangelernährten Rekruten, denen es selbst an Kleidung fehlt, von Einheiten, die schon auf dem Weg zum Schlachtfeld desertieren. „Es ist oft mühsam. Wir reden an die afghanischen Offiziere hin wie an Teflonpfannen, vieles perlt ab.“ Wenn zum dritten Mal vergessen wurde, den Konvoi vor Abfahrt ins Kampfgebiet zu tanken, die Karte zu lesen, würde ein deutscher Kompaniechef brüllen, dass die Kasernenwand bebt. Hier könne man aber nur zarte Hinweise via Dolmetscher unter sechs Augen geben, die Stolz und Ehre der afghanischen Offiziere nicht verletzen. „Ja nicht mit der Tür ins Haus fallen“, sagt auch Ausbilder Armin. „Wenn man zu viel Druck macht, dann lächeln sie.“ Und machen zu. Lern-Erfolge gibt es, aber sie dauern: „Fortschritt in Babyschritten“, murmelt einer.

Vor Ort ist unter den deutschen Soldaten deshalb eine seltsam diffuse Stimmung spürbar. Es hat sich viel bewegt in Afghanistan: Die Lebenserwartung steigt, Kabul ist befreit, Mädchen gehen überall dort zur Schule, wo die Taliban nicht herrschen. Nach 18 Jahren am Hindukusch stellen dennoch Soldaten im Alltag halblaut die Frage: Was bringt das? Kein Frust, kein Jammern, aber wachsende Nachdenklichkeit. Selbst auf den Militärpfarrer im Feldlager kommen Soldaten mit diesen Gedanken zu. „Es gibt manche, die sich fragen: Könnten wir nicht mehr tun?“, sagt Gerson Seiss, ein Mann in Wüstenflecktarn mit Kreuz auf der Schulterklappe. „Die Ziele waren früher höher.“ Das, was man nun mache, „mit so vielen Soldaten im Camp für wenige Adviser“ – lohne sich das, fragten Soldaten. Seiss bemerkt außerdem: „Mit den Jahren verschlechtert sich die Sicherheitslage.“

Der Pfarrer, zum dritten Mal im Afghanistan-Einsatz, irrt nicht. Die Taliban haben sich in manchen Regionen wieder breitgemacht, rücken näher ans Camp heran. Um die Provinzhauptstadt Kunduz, wo die Deutschen 2013 ihr Feldlager räumten, wird fast täglich gekämpft.

„Ein militärisches Patt“ konstatiert Thomas Silberhorn, Staatssekretär im Verteidigungsministerium. „Sowohl Regierung wie Taliban werden diesen Konflikt mit militärischen Mitteln nicht gewinnen können.“ Gleichzeitig erstarken lokal IS-Milizen, auf eine vierstellige Zahl Kämpfer geschätzt. Das allesbegründende Ziel des Afghanistan-Einsatzes, das Land dürfe nie wieder ein sicherer Rückzugsort für international agierende Terroristen werden, ist nicht erreicht.

Auch für die Deutschen wird die Sicherheitslage heikler, landesweit. Die Deutsche Botschaft in Kabul ist noch halb zerstört vom Sprengstoffanschlag 2017. In der Hauptstadt meiden Soldaten sogar die kurze Strecke zum Flughafen, schwer bewaffnete US-Hubschrauber fliegen viertelstündlich einen Taxidienst zum Hauptquartier. Das Generalkonsulat in Masar-e-Scharif zog – als einziges weltweit – von der Stadt ins Bundeswehr-Camp.

Selbst die Drohnen-Piloten fühlen sich mitunter machtlos. Die deutschen Modelle sind unbewaffnet. Manchmal müssen die Soldaten live zusehen, wie afghanische Truppen in Hinterhalten um ihr Leben kämpfen und können nicht direkt eingreifen. Das Mandat erlaubt nicht einmal, Zielkoordinaten an die bewaffneten US-Drohnen weiterzuleiten. „Wenn ich mir vorstelle, da wären meine Kameraden gerade im Einsatz“, sagt der Stabsfeldwebel am Bildschirm bitter und beendet den Satz nicht.

Gleichzeitig nagt an vielen Soldaten das wachsende Gefühl, der Heimat gleichgültig zu sein. „Freundliches Desinteresse“ nannte das einst Alt-Bundespräsident Horst Köhler. Im Feldlager zitieren ihn viele. „Der Einsatz in Afghanistan ist weitgehend aus der Wahrnehmung in Deutschland verschwunden“, bedauert Pfarrer Seiss.

Silberhorn, der Staatssekretär, hat die Soldaten letzte Woche besucht, die Drohnenbilder gesehen, den Pfarrer getroffen, innegehalten am Ehrenhain für die getöteten Soldaten, die obersten Politiker Afghanistans aufgesucht. „Dieser Bürgerkrieg ist jetzt im 40. Jahr“, sagt er, „es gibt eine große Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung.“ Er setzt auf eine neue Generation im Land mit nicht mal 18 Jahren Durchschnittsalter. Und auf einen langen Atem der Welt.

In der „Oase“, dem Betreuungszentrum für Soldaten im Camp, wird Gemütlichkeit simuliert. Von Ostern sind noch Strohhasen übrig, Dienstzimmerschmuck vor sandfarbenen Wänden und sandfarbenen Fliesen. Auf einem Beistelltisch liegt „Gala“, vier Wochen alt. An der Seite hängt ein Weihnachtsgruß der Verteidigungsministerin: „Ihr Einsatz ist ein Geschenk für unser Land.“ Die Schrift verblasst allmählich.

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