von Redaktion

Die israelische Stadt Tel Aviv ist in Feierlaune: Hier findet der Eurovision Song Contest statt. Gegnern ist nicht zum Feiern zumute.

VON MAX WOCHINGER

Tel Aviv – In Jerusalem wird gebetet, in Haifa gearbeitet, in Tel Aviv gelebt. Sagen zumindest die Israelis. Diese Woche wird in der Küstenstadt noch mehr gefeiert: Die israelische Sängerin Netta Barzilai hat mit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest (ESC) in Lissabon vergangenes Jahr die diesjährige Austragung nach Tel Aviv geholt. Für das Land am Mittelmeer ist das Musikspektakel nun eine großartige Chance, sich in einem freundlicheren Licht zu präsentieren. Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten sowie internationale Boykottaufrufe trüben aber die Partystimmung. Die israelische Küstenstadt will davon nichts wissen.

Der Widerspruch könnte nicht größer sein: Im Gazastreifen protestierten am Mittwoch Palästinenser wegen des Nakba-Tages. Dabei gedenken sie stets der Flucht Hunderttausender im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948. 80 Kilometer weiter nördlich, in Tel Aviv, feiert die Musikwelt den ESC. Am Mittwoch kam es an der Grenze zum Gazastreifen zu Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten.

Nach palästinensischen Angaben wurden dabei 47 Menschen verletzt. Laut israelischer Armee kamen rund 10 000 Palästinenser an den Grenzzaun. Sie hatten Reifen angezündet sowie Steine und Sprengsätze geworfen. Die Proteste blieben vergleichsweise gemäßigt. Im Vorjahr waren am Jahrestag der Nakba 60 Menschen getötet worden.

Vor zwei Wochen gab es bereits mehrere Luft- und Raketenangriffe. Laut israelischer Armee wurden dabei über 400 Raketen vom Gazastreifen aus auf Israel abgefeuert (siehe Grafik). Die israelische Armee reagierte mit zahlreichen Vergeltungsangriffen auf den Gazastreifen. Panzer und Flugzeuge griffen nach Armeeangaben rund 220 Ziele an.

Insgesamt vier Menschen in Israel und 25 Palästinenser, darunter mindestens neun Mitglieder der radikalislamischen Hamas oder der mit ihr verbündeten Gruppe Islamischer Dschihad, wurden getötet. Es waren die schwersten Zusammenstöße seit dem Gazakrieg im Jahr 2014.

In dem Küstengebiet leben rund zwei Millionen Palästinenser unter schwierigen Bedingungen. Tel Aviv hingegen gilt als Partymetropole. Die weißen Sandstrände und das internationale Flair locken jedes Jahr Millionen Touristen an. Stefan Ball aus Marzling (Landkreis Freising) ist beim ESC in Tel Aviv mit dabei. Bereits zum 13. Mal ist der ESC-Fan bei dem Spektakel vor Ort.

Zwei Wochen ist er in der israelischen Küstenstadt. Er hat jede Probe angesehen und für 800 Euro Karten für beide Halbfinal-Shows und das Finale am Samstag gekauft. „Die Tickets sind so teuer wie nie zuvor“, klagt der schlanke Mann mit den langen Haaren.

„Die Sicherheitsmaßnahmen sind weniger streng als erwartet“, sagt Ball. Allerdings sei es schon seltsam, wenn Soldaten mit Sturmgewehren im Stadtbus säßen. „Das gehört hier anscheinend einfach dazu.“

Rund 20 000 Polizisten sollen in Tel Aviv im Einsatz sein. Die Gefahr eines Angriffs geht aber nicht nur von Raketen und Bomben aus. Unbekannte Hacker haben mit einer gefälschten Warnung vor einem Raketenangriff die Online-Übertragung des ESC-Halbfinales eines israelischen Senders gestört. Während der Übertragung beim Senders KAN am Dienstag erschien plötzlich eine Art Satellitenbild von Tel Aviv auf dem Bildschirm, auf dem eine Rauchwolke dargestellt war. Zu hören war zudem ein Sirenenton und eine englischsprachige Warnung vor einem Raketenangriff. Der Sender machte die Hamas für die Attacke verantwortlich.

Den deutschen Gästen in Israel verderben die anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikte nicht die Stimmung. Marc Gehring aus Stuttgart ist ebenfalls vor Ort und nicht nur vom ESC begeistert: „Ich finde Tel Aviv ganz toll mit seinem mediterranen Klima, der Lockerheit der Leute und einem bisschen orientalischen Zauber“, sagt Gehring. An seiner Stimmung scheinen auch die internationalen Proteste nichts zu ändern.

Künstler aus aller Welt riefen dazu auf, die Veranstaltung zu boykottieren. Sie begründeten dies mit Israels Vorgehen gegen die Palästinenser und forderten die Verlegung des ESC in ein Land „mit einer besseren Menschenrechtsbilanz“. Ähnlich lauteten Aufrufe palästinensischer Künstler. Als Protest gegen den ESC veranstalteten sie ein Konzert in den Trümmern eines Gebäudes im Gazastreifen, das vor zwei Wochen bei Angriffen zerstört wurde. Zumindest die amerikanische Pop-Ikone Madonna tritt, allen Mahnungen zum Trotz, im Finale als Gastsängerin mit zwei Songs auf.

Auch innerisraelisch gibt es Druck auf die israelische Regierung: Die Generalprobe für das Finale ist ausgerechnet nach Beginn des jüdischen Ruhetags Schabbat, mahnen Kritiker aus dem religiös-jüdischen Lager an. Die ultraorthodoxe Partei „Vereintes Torah-Judentum“ ließ aus Protest etwa die Koalitionsverhandlungen mit dem Likud ruhen, der Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Er hat die ultraorthodoxe Partei mit einem Brief beruhigt: Bei den meisten, die beim ESC hinter und auf der Bühne seien, handle es sich um Nicht-Juden.

Beim großen Wettsingen geht es eben nicht nur um Pop, sondern auch um politische Interessen. Das ist im Musikgeschäft nicht anders als im Sport.

Artikel 4 von 5