Berlin – Deutschland 1949, das Land ist nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört, moralisch am Boden und geteilt. Und doch bekommt es eine stabile Verfassung – die stabilste seiner Geschichte. Nach Einschätzung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wird sich das Grundgesetz auch in Zukunft bewähren.
Herr Schäuble, Sie haben in einer Rede gesagt, das Grundgesetz sei ein „echter Glücksfall“ in der deutschen Geschichte. Wie war das gemeint?
Das Grundgesetz hat uns einen verlässlichen Rahmen gesetzt für die Entwicklung einer stabilen rechtsstaatlichen Demokratie mit einem leistungsfähigen föderalen System. Zugleich hat es sich flexibel genug gezeigt für die ungeheuren Veränderungen, die sich in den vergangenen 70 Jahren in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und in der ganzen Welt vollzogen haben. Nicht zuletzt hat es die Wiedervereinigung ermöglicht. Und deswegen ist das Grundgesetz wirklich ein Glücksfall.
Was war die größte Leistung der Mütter und Väter des Grundgesetzes?
Die Situation war damals sehr fragil – ein geteiltes Land, nicht einmal souverän, sondern zerstört durch den Zweiten Weltkrieg. Es war nicht nur physisch und wirtschaftlich, sondern auch moralisch zerstört. Die große Leistung bestand darin, in dieser Situation eine stabile und doch anpassungsfähige Ordnung zu schaffen. Dazu gehört die im Grundgesetz verankerte starke Rolle des Bundeskanzlers und des Verfassungsgerichts – als Lehre aus der Weimarer Republik.
Es gibt immer wieder Forderungen, noch dieses und jenes ins Grundgesetz reinzuschreiben. Was halten Sie von solchen Operationen an der Verfassung?
Ich halte nicht allzu viel davon, alles, was man politisch gestalten möchte, im Grundgesetz festzuschreiben. Das Grundgesetz ist der Rahmen für politische Gestaltung. Welche Möglichkeiten der politischen Gestaltung es gibt, richtet sich nach den Mehrheiten, über die der Wähler alle vier Jahre entscheidet. Alles im Grundgesetz zu regeln, macht das Grundgesetz nicht besser.
Es hat schon mehr als 60 Änderungsgesetze gegeben. Ihre Partei hat einmal einen Parteitagsbeschluss gefasst, Deutsch als Sprache aufzunehmen.
Ich finde, dass das Grundgesetz durch die vielen Änderungen nicht unbedingt besser geworden ist. Sicher, man braucht gelegentlich Anpassungen, nicht nur durch die Entwicklung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, sondern auch durch den Verfassungsgesetzgeber. Aber ich war beispielsweise entschieden gegen den Parteitagsbeschluss der CDU, die deutsche Sprache im Grundgesetz zu verankern – und habe meine Meinung dazu auch nicht geändert.
Haben Sie Beispiele dafür, dass das Grundgesetz durch Änderungen eher gelitten hat?
Sprachlich ist das Grundgesetz durch die verschiedenen Änderungen sicher nicht besser geworden. Ich nenne ein Beispiel, für das ich die Verantwortung trage: die Einführung des Artikels 16a zum Asylrecht. Wir haben damit die Genfer Flüchtlingskonvention in das Grundgesetz übertragen. Ich hatte mir am Anfang vorgestellt, wir schreiben einfach: „Politisch Verfolgte genießen Asyl. Es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention.“ Punkt. Allerdings haben mir alle Juristen gesagt, das gehe so nicht, es müsse stärker ausformuliert werden. Unter der Neigung, Dinge bis zur Perfektion zu regeln, leidet am Ende die Sprache. Das können Sie im Grundgesetz vielfältig sehen.
Es gäbe nach Artikel 146 die Möglichkeit, sich eine neue Verfassung zu geben – eine Verfassung aus einem Guss. Ist das mehr als Theorie?
Wenn wir jetzt versuchen würden, ein neues Grundgesetz zu schreiben, was glauben Sie, wie lange wir beraten würden? Wir haben ja die Neigung, dann alles perfekt machen zu wollen. Eigentlich sollen Verfassungen klar und möglichst kurz sein – und nicht alles im Detail regeln. Was dies angeht, hat sich das Grundgesetz gegenüber seiner Fassung von 1949 schon verändert. Es ist heute zudem schwieriger geworden, sich auf irgendetwas zu einigen. Wir finden doch in jeder Frage leicht eine Mehrheit gegen etwas, aber viel mühsamer Mehrheiten für etwas. Für ein neues Grundgesetz bräuchten wir aber überzeugende Mehrheiten – und das nicht nur im Allgemeinen, sondern im Detail. Deshalb halte ich ein solches Vorhaben heute für unwahrscheinlich. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem man sich darüber verständigt, etwas Neues zu machen, aber ich sehe das im Moment nicht. Das Grundgesetz wird sich auch weiterhin bewähren.
Lange haben wir die vom Grundgesetz begründete liberale Demokratie als Selbstverständlichkeit angesehen. Sie sprachen jetzt davon, dass die freiheitliche Demokratie fragil sei. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt eine alte Erfahrung: Was man glaubt, selbstverständlich zu haben, ist in der individuellen Wertschätzung nicht so hoch bewertet. Die größte Gefahr für die freiheitliche Demokratie ist deshalb, dass wir sie für selbstverständlich halten.
Wenn die Demokratie nicht mehr so selbstverständlich ist wie früher, was bedeutet das?
Ich sehe darin eine Chance. Wenn uns bewusst wird, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, dann kümmern wir uns wieder mehr darum. Deswegen haben wir ja zum Teil wieder steigende Wahlbeteiligungen. Das ist doch gut. Man muss nicht resignieren, aber man muss sich kümmern. Das ist das Prinzip der offenen Gesellschaft von Karl Popper. Sie begeht Irrtümer, aber sie kann sie korrigieren.
Also kein Anlass für Pessimismus?
Ich bin nicht pessimistisch. Ich habe viele Sorgen und sehe viele Krisen. Die Demokratie befindet sich durchaus in einer Art Stresstest. Aber den können wir bestehen. Wie die Bundeskanzlerin gelegentlich gesagt hat: Wir werden nach Krisen stärker.
Die Regierungsbildung wird schwieriger. Ist da das Grundgesetz noch die richtige Verfassung?
Ja. Wenn die Bevölkerung in ihrem Wahlverhalten zwischen den verschiedenen Parteien stärker ausdifferenzieren will, dann mag mir das als CDU-Mitglied vielleicht nicht gefallen, aber ich muss es respektieren. Und wenn eine Partei nicht so viele Stimmen erhält, wie sie gerne hätte, dann muss sie eben überlegen, was sie besser machen kann. Demokratie ist Wettbewerb. Das Grundgesetz ermöglicht diesen Wettbewerb.
Schauen wir in den Bundestag: Man hat den Eindruck, dass seit dem Einzug der AfD Zwischenrufe und Rüpeleien zunehmen. Verroht der Umgang?
Nein. In den Plenardebatten haben wir mehr Zwischenrufe, das stimmt. Manche sind auch nicht nett und nicht in Ordnung. Dafür gibt es Regeln, da wird seitens des Präsidiums eingeschritten und das dann im Ältestenrat gelegentlich besprochen. Wir haben im Präsidium eine klare gemeinsame Linie: Wir sind unparteiisch, aber in der Durchsetzung der Regeln strikt. Und es funktioniert. Wir haben keine Schlägereien.
Zum Schluss – haben Sie eigentlich einen Lieblingsartikel im Grundgesetz?
Artikel 1. In dem ist alles enthalten: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist der Kern. Daraus folgt das Weitere: die Freiheit, die Gleichheit und im Grunde auch die Verpflichtung zur Solidarität. Ich finde aber auch viele weitere Artikel schön, der Grundrechtskatalog insgesamt ist wunderschön. Interview: Ulrich Steinkohl