Krün – Natürlich war Charlotte Feigel da, als Barack Obama in Krün zu Besuch war. Als der US-Präsident 2015 während des G7-Gipfels in dem Alpendorf im Isartal ein alkoholfreies Weißbier trank, eine Weißwurst verspeiste und zu jedermann auf dem Dorfplatz „Gruß Gott“ sagte, während die Weltpresse Fotos machte. Feigel, inzwischen 109 Jahre jung, war ganz nah, man will ja was erleben – im Urlaub und im Leben sowieso.
„Zuerst kamen zwei Motorräder. Dann kam der Obama in seinem schwarzen Auto mit den dunklen Fenstern“, erzählt sie, während sie auf der Eckbank ihrer 42 Quadratmeter großen Ferienwohnung im Gästehaus „Hochland“ in Krün sitzt. Zur Spezialausstattung gehören Ganzkörperspiegel, Safe und Eierkocher.
Die selbst gebackenen Weihnachtsplätzchen vom Dezember hat sie in einer riesigen, weißen Plastiktüte neben sich stehen. „Nehmen Sie ruhig zwei“, sagt sie. Dankschön, sehr lecker, sehr knusprig. Extrem gut gealtert. Wie die Bäckerin, die heute einen schicken weißen Pulli trägt und Sachen sagt wie: „Wir haben alles rund um Krün ausgekundschaftet, Schöttlkar, Barmsee, wir waren immer unterwegs.“ Oder: „Einmal sind wir am Berg in ein Gewitter gekommen. Das war ganz greislig.“
Auf die Hauswand der Pension, in der sie immer übernachtet, sind schneidige Burschen in Lederhosen gemalt und eine Frau im Dirndl. Vom Balkon aus sieht sie das Karwendel-Gebirge. In der Kochnische hat sie große Mengen Serbische Bohnensuppe, Nutella und Bergbauernmilch stehen. Krün, das ist für sie Bilderbuch-Bayern mit Ausblick und Kochnische. Seit 1950 kommt Charlotte Feigel aus Ettlingen (Kreis Karlsruhe) hierher. Jahr für Jahr. Treuer geht’s nicht.
Inzwischen macht sie immer mit ihrem Sohn Boyd Wolfgang, 80, Urlaub. Der Sohn sitzt im beigen Outdoorhemd neben ihr auf der Bank und sagt: „Obama hat uns wahrscheinlich gesehen. Wenn er gewusst hätte, dass du da bist, hätte er uns besucht.“ Charlotte Feigel sagt: „Ach, der Obama geht doch nur zur Merkel.“
Die beiden sind ein jahrzehntelang eingespieltes Team. Ein Urlaubs-Tandem der Extraklasse. Der Sohn war früher Apotheker, heute züchtet er Kiwi. „Wir hatten schon mal viereinhalb Zentner“, sagt er. Eine Tüte voll haben sie auch diesmal in Krün dabei. Sie sind verschrumpelt und von der Vorsaison, aber schmackhaft, versichert Boyd Wolfgang Feigel. Er sagt: „Mein Vorfahre war ein berühmter General – General Boyd.“ Deswegen auch der Vorname. „Ich habe das heute noch im Blut.“ Das ist sicherlich ein strategischer Vorteil, wenn man so lange und so oft wie die beiden verreist. Heuer sind sie dreieinhalb Wochen in Krün. Anreise: per Auto. „Audi A3, 200 PS“, sagt Sohn Boyd. „410 Kilometer einfach.“ Abreise: demnächst, notgedrungen.
Sie wären gerne länger geblieben, aber sie müssen das Zimmer im Gästehaus „Hochland“ zu ihrem Bedauern räumen. Andere Stammgäste sind im Anflug. Der 1900-Einwohner-Ort hat viele Fans.
Anfangs ist Charlotte Feigel mit ihrem Mann Robert, ebenfalls ein Apotheker, in das Alpendorf gefahren. Die allererste Reise, die im Jahr 1950, haben sie von Charlotte Feigels Schwester Ilse geschenkt bekommen. So fing alles an. Die Schwester hat im Reisebüro gearbeitet und wusste berufsbedingt genau, wo die schönsten Flecken der Erde sind. „Damals waren noch viele Berliner da“, sagt Feigel. „Die haben immer die Bettdecken mitgenommen.“ Mitgenommen im Sinne von geklaut, meint sie. „Ja, das haben die Großschnauzen aus Berlin gemacht.“
Hunderte, wahrscheinlich Tausende Tage hat sie schon in Krün verbracht. Da erinnert man sich nicht an jedes Detail, aber diese Tage im Juli 1951 wird sie nie vergessen. Damals zog ein Bergungsteam einen 25 Tonnen schweren britischen Bomber aus dem nahe gelegenen Barmsee. Das Flugzeug war 1943 abgestürzt, Notlandung, nachdem der viermotorige Bomber von einer Flak getroffen worden war. Die Besatzung rettete sich in ein Schlauchboot. „See-Ungeheuer“, so nannten die Einheimischen das Wrack im See. Mit vier Stahlseilen wurde die Boeing B-17 schließlich rausgezogen. „Da waren wir dabei“, sagt Charlotte Feigel. „Es war alles abgesperrt.“
1963 stirbt ihr Mann. Aber Charlotte Feigel bleibt Krün treu. Sie fährt mit der Schwester her, später mit dem Sohn, immer wieder. Sie schaut zu ihm rüber und fragt: Ist der Maibaum eigentlich noch da? Der Sohn sagt: „Ja, 43 Meter hoch.“ Ihr entgeht fast nichts in dem Ort, für den Rest hat sie ihren Boyd, der nie geheiratet hat und auch daheim in Ettlingen mit der Mama zusammenwohnt.
Von Krüns Bürgermeister Thomas Schwarzenberger haben sie gerade erst ein Gemälde für ihre Urlaubstreue bekommen, zudem eine Sondergenehmigung. Die Rentnerin ist nicht mehr so gut auf den Beinen. Deswegen dürfen die Feigels mit dem Auto zur wunderhübschen, winzigen Kapelle Maria Rast auf den Buckelwiesen fahren, das ist sonst verboten. Das ist einer der Lieblingsplätze von Charlotte Feigel. „Vor Jahren habe ich dort ein Gebetsbuch von Siebzehnhundertirgendwas gefunden“, erzählt sie. „Draußen im Regen.“ Sie hat es in die Kapelle gelegt. Dort liegt es heute noch. „Das war ein kleines Erlebnis.“ Ein bisschen oberbayerische Urlaubsmagie, mal wieder.
Langweilig wird es ihr hier nie. Sie schaut die Berge vom Balkon aus an. Sie macht jeden Tag Mittagsschlaf. Sie notiert besondere Wetterereignisse. Wenn es gewittert oder hagelt, solche Sachen. Und sie ist jeden Tag neugierig, was die Welt wieder Neues umtreibt. „Wir lesen alles Mögliche“, sagt sie. „Über Helene Fischer, Prinz Charles und auch Camilla.“
Ihr Sohn, der den General im Erbgut hat, sagt: „Die Krüner können stolz darauf sein, dass Leute wie wir, die überall waren, auch nach Krün kommen.“ Das ist jetzt kein Satz, mit dem man den bayerischen Verdienstorden bekommt oder Beliebtheitsweltmeister wird. Aber wahrscheinlich stimmt er in diesem Fall. Seine Mutter ist schon über den Grand Canyon geflogen, sie war in Florida und über 20 Mal auf Teneriffa. „Das erste Mal 1936“, sagt sie. Sie hat mehr Urlaub gemacht als andere gelebt haben. Aber nirgends auf der großen ganzen Welt war sie öfter als hier im Isartal. Warum, ja warum eigentlich? „Es ist so ein Gefühl“, sagt sie.
Dasselbe in Krün. Frühling für Frühling, Sommer für Sommer. Seit 69 Jahren. Das ist ihr Leben. Keine ganz schlechte Wahl.