Die Revolution in 1000 Orten Oberbayerns

von Redaktion

Günter Baumgartner, 61, aus Grafing ist eigentlich IT-Berater, aber er hat geschafft, was keinem Professor gelang: Er hat die Geschichte der Revolution in 1000 oberbayerischen Orten erforscht – in der Freizeit. Vier Jahre hat er für sein Mammutwerk gebraucht, das sagenhafte Anekdoten enthält.

VON DIRK WALTER

Grafing – Die Revolution in Bayern, das ist doch schon so gut erforscht. Oder doch nicht? Wer genauer liest, der merkt, dass es zwar viel über München gibt, eher weniger aber über die Revolution auf dem Land. Doch der Umsturz im Gefolge des 7./8. November 1918, als Kurt Eisner die Monarchie hinwegfegte, war kein reines Stadtereignis. In fast jedem Dorf gab es damals Bauernräte, gab es inbrünstige Verehrer von Eisner – und ebenso eiserne Gegner der Revolution. Nur aufgeschrieben insgesamt hat die Geschichte niemand. Bis jetzt.

Was eigentlich Aufgabe eines Professors für bayerische Geschichte wäre, hat ein Autodidakt geleistet: In mehr als vierjähriger Recherchearbeit durchpflügte Günter Baumgartner, 61, IT-Betreuer aus Grafing im Kreis Ebersberg, mehr als 1000 Orte in Oberbayern nach Spuren der Revolte. Er ist mittlerweile eine Art Handlungsreisender in Sachen Revolution: Puchheim, Aßling, Berg, Dorfen, Trostberg – überall in der Region berichtet er, was in den Dörfern vor 100 Jahren vor sich ging. In Kürze erscheint der erste Band seiner auf vier Teile angelegten Revolutionsgeschichte. Er behandelt Oberbayern: sämtliche damals 28 Bezirke (Landkreise) – von A wie Aibling bis W wie Wolfratshausen.

Das Land war in Aufruhr, sagt Baumgartner, und blättert in seinem voluminösen Manuskript. Hängenbleiben, sich festlesen, kann man eigentlich überall. Zum Beispiel im Kapitel über Garmisch-Partenkirchen, wo der örtliche Vollzugsrat am 19. Dezember 1918 sogenannte Volksjäger aufstellte – ehemalige Wilderer, insgesamt 23 Personen, die nun sozusagen von Amts wegen wöchentlich 50 Stück Rot- und Gamswild für die Fleischversorgung der Werdenfelser Bevölkerung erlegen sollten. Das Forstamt Garmisch stellte widerwillig einen Hirschkarren zur Verfügung.

Oder die Geschichte vom (angeblich) weinenden König, die Baumgartner im Kapitel über Kiefersfelden erzählt: Die örtliche „Chiemgau Zeitung“ berichtete Ende 1918 über die Flucht Ludwig III. Richtung Österreich. Ein Fährmeister soll ihn über den Inn rüber nach Kufstein gebracht haben. „Er stand früh morgens am Fenster und weinte, seinen Blick nach seinem nahen Bayernland gewendet“: Jetzt sei er 73 Jahre alt und habe keinen Platz, „wo ich mein Haupt hinlegen könnte!“.

Baumgartner breitet einen dicken Packen Papier vor sich aus. Die Korrekturfahnen. „Ich bin fast durch“, sagt er. Dann geht das Werk in Druck: 650 Seiten, dazu noch über 400 Seiten Anhang, die der Buchkäufer runterladen kann: ein Verzeichnis der Namen aller Bauernräte in Dörfern und Städten Oberbayerns sowie der damaligen Wahlergebnisse bei der Landtagswahl im Januar 1919. Bis dato war gar nicht bekannt, dass es so viele Räte gab. Die Standardauskunft vieler Heimatpfleger lautete „Bei uns war nichts“, berichtet Baumgartner. „Da habe ich gewusst, ich muss das Graben anfangen.“

Also grub er: „Spurenlos ging die Revolution nirgends vorbei“, sagt er, „dafür war der Eingriff zu groß.“ Fast zu jedem Ort hat Baumgartner etwas gefunden. Manchmal nur kleine Details. „Vor dem 31.3.1919 wird in Königsfeld (Pfaffenhofen) ein dreiköpfiger Bauernrat gebildet“, heißt es dann. Oder zu einem Dorf bei Schongau: „Die Abteilung Liftl des Freikorps Landsberg besetzt Hohenfurch am 28.4.1919 und beginnt am nächsten Tag von hier aus den Angriff auf Schongau.“

Manchmal sind sagenhafte Geschichten dabei, die bisher niemand kannte. In Marktl am Inn etwa rotteten sich nach der Ermordung von Kurt Eisner am 21. Februar 1919 hundert Arbeiter der Firma Sager & Woerner zusammen, die gerade mit dem Bau eines Hochwasserdamms beschäftigt waren. Sie gingen zum Pfarrer: Er solle eine Messe lesen für den Toten. „Ihr Ansinnen wurde aber, da Eisner bekanntlich der katholischen Kirchengemeinschaft nicht angehörte, abgewiesen“, berichtete die „Inn-Zeitung“ damals. Gewiss, nur eine kleine Anekdote, aber mit Symbolcharakter, zeigt sie doch „die Anhänglichkeit der Arbeiter zu Kurt Eisner“. Die spiegelt sich auch in einer anderen Geschichte: In Altomünster im Dachauer Land zwang der Soldatenrat den Pfarrer zum Glockenläuten.

Die Ermordung Eisners durch „diesen Volltrottel“ – gemeint ist der Attentäter Graf Arco – ist nach Ansicht Baumgartners der entscheidende Bruchpunkt der Revolutionsgeschichte. Wäre Eisner am Leben geblieben, „wäre die Revolution wesentlich unblutiger verlaufen“. Eisner war „ein absoluter Gewaltgegner“, er hätte mäßigend gewirkt, ist sich der Revolutionschronist sicher. „Man kriegt da nachträglich noch einen dicken Hals.“

Dass Eisners Unabhängige Sozialdemokraten bei der Landtagswahl am 12. Januar 1919 so katastrophal schlecht abgeschnitten hatten (2,5 Prozent), führt er auf den schwachen Organisationsgrad der USPD zurück. Erst Anfang Januar gab es in Rosenheim und Ingolstadt die ersten Ortsverbände außerhalb Münchens. Baumgartner glaubt, dass die meisten Arbeiter keinen großen Unterschied zwischen USPD und SPD machten. „Die wählten halt die Sozialdemokraten.“ Dennoch gab es in Bayern vereinzelt extrem rote Dörfer. In Tettau und Kleintettau in Oberfranken erlebte die USPD selbst noch im Juni 1919 bei der Kommunalwahl den „totalen Triumph“, holte alle zwölf zu vergebenden Gemeinderatssitze.

Nach dem 21. Februar radikalisierte sich die Revolution. Am 7. April 1919 wurde in München die erste Räterepublik ausgerufen, die Landesregierung unter Führung von Johannes Hoffmann, einem sozialdemokratischen Volksschullehrer, floh nach Bamberg und rief die Reichswehr zu Hilfe. Die kam, verstärkt durch „weiße“ Freikorps, und schoss die Revolution nieder.

Auch für diese Endphase der Revolution hat Baumgartner alles ausgewertet, was ihm in die Finger kam: Vom Schriftgut der Sängertafel bis hin zu Aufzeichnungen der Schützenvereine. Und die damals sehr zahlreichen Lokalzeitungen sowieso. Sie erschienen aber nur lückenhaft, Baumgartner ist daher skeptisch, ob die breite Bevölkerung dem Gang der Ereignisse in den turbulenten Monaten regelmäßig folgen konnte. „Das wichtigste Kommunikationsmittel damals war im Zweifelsfall aber der Ratsch“, sagt er.

Ein Glücksfall ist, wenn Bürgermeister und Pfarrer Tagebuchnotizen hinterlassen haben. Oder auch ein einfacher Mann wie der Bauernbund-Führer Franz Huber aus Prien am Chiemsee, dessen Aufzeichnungen Baumgartner von der Familie erhielt. Er erfuhr von dem Tagebuch über Umwege – durch eine Facharbeit –, telefonierte sich durch und erhielt die Dokumente. Bauer Huber hielt fest, wie der „Oberstationsmeister Hirsch aus Stephanskirchen mit mehreren schwer bewaffneten Bauernburschen“ Ende April 1919 im Ort auftauchte und „einen Transport gefangener Sozialisten aus Rosenheim“ im Gefängnis Prien „in Schutzhaft“ brachte.

Vor allem zu dieser Endphase der Revolution liegen zahlreiche Quellen vor. In Miesbach kam es dabei zu einem Mord der selbst ernannten Roten Armee – dem einzigen außerhalb Münchens, wie Baumgartner sagt. Ein Revolutionstribunal verurteilte den früheren stellvertretenden Miesbacher Stadtkommandanten Lacher wegen angeblicher konterrevolutionärer Aktivitäten zum Tod. Wenige Stunden nach dem „Urteil“ wird Lacher am Sonntag, 27. April 1919, im Gefängnishof von Miesbach standrechtlich erschossen.

Trotz dieses klaren Mords warnt Baumgartner davor, den damals kursierenden Horror-Berichten umstandslos zu glauben. So behauptete das Ministerium Hoffmann am 16. April 1919 in einem „Aufruf“ an die „Landsleute“: „In München rast der russische Terror, entfesselt von landfremden Elementen.“

Solcher Propaganda schenkten schon damals nicht wenige Menschen kaum Glauben. Der Ortsverein der SPD im schwäbischen Illertissen schickte im April 1919 sogar eine kleine Delegation nach München, die „aufgrund der inzwischen gemachten, durch persönlichen Augenschein in München bestätigten Erfahrungen der Regierung Hoffmann ihr Misstrauen“ aussprach. Eine SPD-Versammlung in Illertissen hielt per Beschluss am 22. April fest, dass die von Bamberg aus gestreuten Nachrichten sich „mindestens als sehr übertrieben erwiesen“ hätten.

Dringend rieten die SPDler zur „unverzüglichen Zurücknahme“ der herbeigerufenen, besonders brutal agierenden württembergischen Truppen zur „Vermeidung des Bürgerkrieges“. Da war es aber schon zu spät. Am Ende gab es mindestens 600 Tote, wahrscheinlich aber mehr.

Bleibt die Frage, warum Baumgartner das Buch geschrieben hat. „Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie“, sagt der IT-Berater. Der Vater war Maurer, der Großvater auch. Rotes Blut also. Reich wird er mit dem Buch sicher nicht – die Startauflage beträgt gerade mal 1000 Stück.

Das Buch

Günter Baumgartner (mit Dieter Grund): Die bayerische Revolution 1918/19 in Stadt und Land. Band 1 Oberbayern, Verlag Edition AV, 49,90 Euro (Subskriptionspreis 39,90), zu bestellen über editionav@gmx.net.

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