München – Marcel Bischofberger erinnert sich genau an den Moment, in dem er realisierte, dass er Hilfe braucht: Er sitzt in seinem Zimmer im Studentenwohnheim in München. Es klopft an der Tür – er schafft es nicht, aufzustehen und zu öffnen. Schon beim Gedanken daran befällt ihn Angst, Hilflosigkeit, Panik. Als er sich in den Monaten davor immer mehr aus dem Uni-Leben zurückzieht, denkt er: Liebeskummer, geht vorbei. Als er nicht mal mehr sein Zimmer verlassen kann, rafft er sich auf, ruft bei der psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks an, vereinbart einen Termin. Kurz darauf wird bei ihm eine Depression diagnostiziert. Das war 2012 und Marcel gerade im 5. Semester. An der Technischen Universität studierte er BWL.
Marcel Bischofberger steht für eine alarmierende Entwicklung. Laut einem Report der Barmer Ersatzkasse wird aktuell bei jedem sechsten Studenten in Deutschland eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Bei einer Umfrage der Techniker-Krankenkasse gab jeder vierte Student an, an starkem Stress und Erschöpfung zu leiden – Erstsymptome eines Burnouts. Dem Deutschen Studentenwerk zufolge haben elf Prozent aller Studenten eine „studienrelevante Beeinträchtigung“ und studieren im Schnitt länger, wechseln häufiger Studienfach und -ort und unterbrechen ihr Studium öfter als ihre Kommilitonen. Mehr als die Hälfte dieser Beeinträchtigungen sind psychische Erkrankungen.
All diese Zahlen haben eines gemeinsam: Sie sind gestiegen. Die psychotherapeutische Beratungsstelle des Studentenwerks München verzeichnete vergangenes Jahr 1726 Anmeldungen zu Erstgesprächen und 2823 Beratungsstunden – 20 bzw. 13 Prozent mehr als im Vorjahr.
Das ist zwar einerseits bedingt durch die steigende Studentenzahl, deutet aber auch auf einen gestiegenen Bedarf an psychotherapeutischer Beratung hin. Swantje Röck, Beraterin beim Münchner Studentenwerk, sieht darin „eine gesellschaftliche Tendenz, die sich auch bei Nicht-Studierenden zeigt (siehe unten), aber auch ein Ergebnis der steigenden Leistungsorientierung innerhalb des Studiums ist“.
An der Technischen Hochschule in Rosenheim betreibt die Caritas eine psychosoziale Beratungsstelle. 180 Beratungen gab es im vergangenen Jahr. Psychologe Christoph Rothmayr glaubt, dass das nur ein Teil der Betroffenen ist. Viele würden zu niedergelassenen Therapeuten gehen.
Erfolgs- und Notendruck, Zukunftsängste, ein neues soziales Umfeld, aber auch Herausforderungen wie Wohnungssuche und Lebensunterhalt sind Faktoren, die die Psyche belasten. Dinge, die Studienanfänger nach einem Abitur im G8 jünger bewältigen müssen als die Studenten-Generationen vor ihnen. „Viele kommen erst mal, weil es im Studium hakt“, sagt Rothmayr. Oft zeigten sich dann Probleme im Hintergrund. „Viele leiden auch darunter, nur auf Druck der Eltern einen bestimmten Studiengang gewählt zu haben.“
Es ist also oft nicht das Studium an sich, sondern ein Mix, der die Psyche überfordert. „Ein Studium produziert nicht automatisch depressive Menschen“, sagt auch Marcel Bischofberger. Dieser Fakt ist ihm wichtig. Zwar bedeute die Uni mehr Stress. „Aber das ist nichts, was man nicht in den Griff bekommen kann.“ Viele schaffen es aber nicht allein. Inzwischen hat Marcel seinen Master. Er ist noch immer in Therapie, aber seit über einem Jahr stabil.
Marcel engagiert sich heute in Projekten, die sich für einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen einsetzen. „Wir brauchen weniger Schwarz-Weiß und traurige Klaviermusik, sondern mehr bunte Farben und Rock ’n’ Roll“, sagt er. „Wir müssen statt der Krankheit den Menschen in den Vordergrund stellen, der sie überwinden kann.“ Über sich selbst und seine Depression zu sprechen, sei ihm anfangs schwergefallen. Aber Reden habe ihm immer geholfen – erst beim Studentenwerk, dann in der Therapie, dann „in einer großartigen WG mit tollen Leuten“, in die er aus dem Studentenwohnheim zog. Auch seine Dozenten halfen ihm, indem sie ihm mehr Zeit für seine Bachelor- und Masterarbeit gaben.
Neben dem Studentenwerk gibt es für Studierende auch Anlaufstellen direkt an den Hochschulen. Die Stellen vermitteln nicht nur Beratungen, sondern zeigen Möglichkeiten auf, wie man das Studium selber wieder in den Griff bekommt: Auszeiten, Fristverlängerungen, Organisationshilfen. Die Beratung erfolgt in der Regel ohne großen Aufwand, ohne vorherige Diagnose und in den meisten Fällen anonym. Auch diese Anlaufstellen verzeichnen eine erhöhte Nachfrage. „Junge Menschen sprechen heute offener über psychische Probleme. Die Scheu, zum Psychologen zu gehen, nimmt ab“, sagt Psychologe Rothmayr.
Manchmal braucht man nur jemanden, der zuhört. Jemanden wie Stephanie. Sie studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, möchte ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Denn Stephanie engagiert sich ehrenamtlich bei der „Nightline München“, einem nächtlichen Sorgentelefon von und für Münchner Studenten.
Wer an den Enden der Leitung sitzt, bleibt anonym, kein Anruf wird aufgezeichnet. Das Team der Nightline führt die Gespräche nach den Grundsätzen des US-Psychotherapeuten Carl Rogers: Zuhören und Fragen stellen sind erwünscht, Ratschläge und Verhaltensanweisungen nicht. So sollen die Anrufer sich ohne Angst vor Verurteilungen den Kummer von der Seele reden können, aber auch Auswege aus ihrer jeweiligen Situation finden.
Am häufigsten hört Stephanie von Herzschmerz und privaten Problemen, manchmal von Stress und Angst. Die meisten Anrufe kämen in den Prüfungsphasen. „Vielleicht kann ich nicht immer helfen“, sagt sie, „aber zumindest habe ich zugehört.“ Das, glaubt sie, passiert im Alltag viel zu selten. Und das Nachfragen und Zuhören tue auch ihr selbst gut. „Wenn man später im Job Probleme lösen oder Entscheidungen im Team treffen muss, hilft es, wenn man das kann und sich die Zeit dafür nimmt.“ Auch Marcel hat als Student oft bei der Nightline angerufen, wenn es ihm schlecht ging. Heute sagt er: „Reden hilft. Zuhören auch.“
Das ist auch das Motto eines des Projekte, in denen sich Marcel engagiert: „Traveling the Borderline“, als Blog gestartet, jetzt eine Initiative, die sich für einen offenen und vorurteilsfreien gesellschaftlichen Diskurs über psychische Gesundheit einsetzt. Zusammen mit deren Gründerin Dominique de Marné hat Marcel die Aktionswoche #TUM4MIND initiiert, die von der Jungen Akademie an der Technischen Universität vergangenes Jahr umgesetzt wurde. Im Mittelpunkt: die psychische Gesundheit. Sprechstunden, Diskussionsrunden, Filme und Ausstellungen sollten Studierende zum Nachdenken, Reden und Zuhören anregen. Mehr als 1000 Besucher kamen im November.
Natürlich ist Marcel darauf stolz. So etwas, sagt er, bringe Steine ins Rollen und helfe, Studierende als Entscheidungsträger von morgen für das Thema psychische Gesundheit zu sensibilisieren. „Aber eigentlich“, sagt er, „müssen wir als Gesellschaft viel früher ansetzen als an der Uni.“ Er selbst spricht heute nicht nur vor Studierenden über seine Depression, sondern auch mit Schülern – und ist begeistert, aber auch ein bisschen erschrocken, wie viele ihm von ähnlichen Problemen berichten. Je mehr Menschen über psychische Probleme reden, desto mehr wird klar, wie allgegenwärtig das Thema ist.
Marcel Bischofberger hat auf jeden Fall gelernt: Statt sich hinter der Tür zu verstecken, ist es immer besser, sie ganz weit aufzumachen. Egal, ob von innen oder außen.