Steinkirchen – Michael steht im Tor der SpVgg Steinkirchen. Der 21-Jährige wirkt wie jeder andere Torwart. Erst auf den zweiten Blick sieht man: Ein Fuß ist dicker als der andere. Michael verlor mit 14 Jahren durch die Folgen einer Blutkrankheit seinen linken Unterschenkel – er spielt mit Carbon-Prothese. In der Mannschaft ist er voll akzeptiert, auch wegen seiner lockeren Sprüche. Zum Beispiel flog der Ball mal in die Brenneseln: „Ich mach das“, sagte er, „ich spür im linken Bein eh nichts.“ Doch diese Akzeptanz musste sich Michael erst erkämpfen.
Es war im Herbst 2011. Damals spielte Michael noch bei seinem Heimatverein Reichertshausen im Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm. Beim Waldlauf mit dem Team knickte er um. „Meine Teamkameraden mussten mich nach Hause tragen.“
Michael ließ sich bei einem Heilpraktiker akkupunktieren, einmal die Woche. „Dort wurde mir gesagt, dass ich eine Zerrung habe.“ Danach hatte der damals 14-Jährige keine Schmerzen mehr. Obwohl der Arzt ihm anderes riet, trainierte Michael weiter. Dann kamen die Schmerzen zurück, wurden nachts immer stärker. „Ab zwei Uhr hatte ich brutale Schmerzen. Ich spürte meinen Fuß nicht mehr. Als ich die Hose hochzog war mein Fuß weiß, wie bei einer Leiche. Ich bin alle zwei Stunden aufgewacht.“
Michael geht zum Orthopäden. Der Arzt spürt keinen Puls mehr in seinem Bein. Dann geht alles ganz schnell: Michael kommt ins Pfaffenhofener Krankenhaus, wird per Hubschrauber in eine Münchner Klinik verlegt. „Die Ärzte operierten mich zwölf Stunden“, sagt Michael, „sogar Schlangengift kam zum Einsatz.“ Doch es war zu spät. „Die Ärzten sagten: Fuß ab oder du musst sterben.“
Als Michael aus der Narkose aufwacht, ist sein linkes Bein von der Wade abwärts amputiert. „In den ersten drei Wochen habe ich gedacht, das alles wäre nur ein böser Traum“, sagt Michael. Und er erfährt, warum sein Bein ab musste. Michael hat das Faktor-5-Leiden – was er bis dahin nicht wusste. Betroffene haben eine zu hohe Konzentration an roten Blutkörperchen, das Blut ist dicker, fließt schlechter und erhöht die Thrombosegefahr. Michael bekam wegen der Zerrung eine Thrombose, aber die OP kam zu spät.
Freunde schenken ihm ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freunde für immer“. Das gibt Michael Lebensmut. „Ich habe gesehen, dass welche hinter mir stehen und mich unterstützen, wenn es mir schlecht geht.“ Auch seine Freundin, die er 2016 kennen lernt, ist ihm ein Rückhalt.
Michael kämpft sich eineinhalb Jahre durch die Reha. „Das war keine einfache Zeit“, sagt er. „Durch die Überbelastung bestand sogar die Gefahr, dass ich noch meinen rechten Fuß verliere.“ Die Ärzte sagen, er könne nie wieder Fußball spielen. Michael antwortet nur: „Das werdet ihr schon sehen.“ Und tatsächlich steht Michael ein Jahr später wieder für seinen alten Verein auf dem Feld. Der Verein unterstützt ihn. Denn wer mit Prothese spielt, braucht ein Gutachten, dass er keine Gefahr für andere darstellt. „Ich habe schnell gemerkt, dass es im Sturm nicht mehr geht“, sagt Michael. „Länger als 20 Minuten konnte ich nicht spielen.“
Dann beginnt eine Phase, die Michael emotional zurückwirft. Er spürt zunehmend Mobbing. „Als Kind habe ich auch Behinderte komisch angeschaut und jetzt traf es mich selber“, sagt er. Vor allem im Fußballverein sei es schlimmer geworden. Kinder hätten ihn Piratenfuß oder Holzbein genannt. Sogar von eigenen Zuschauern seien unschöne Dinge gekommen. Michael sucht Hilfe bei einem Psychiater. Der kann nicht wirklich helfen. „Er sagte mir immer nur, dass ich das abhaken und akzeptieren soll. Doch wie soll ich das schaffen, wenn ich jeden Morgen meinen Fuß sehe und daran erinnert werde.“
Ein halbes Jahr später zieht Michael die Reißleine, beginnt mit Leichtathletik. 2015 wird er Deutscher Nachwuchs-Meister im 100-Meter-Lauf. „Sie nannten mich den bayerischen Bomber, weil ich so schnell war“, sagt Michael. Doch dann verliert er die Motivation. „Nur Geradeaus laufen, das war nichts für mich.“ Ihm fehlt die Gemeinschaft, wie sie in einer Fußballmannschaft herrscht.
Michael sagt, er habe in diesen Jahren auch viel über Menschen gelernt, über wahre und falsche Freunde. „Viele haben sich von mir abgewendet.“ Sein bester Freund aber bringt ihn wieder zum Fußball. Diesmal bei der SpVgg Steinkirchen. „Er hat mich dazu überredet“, sagt Michael. „Am Anfang war ich nicht begeistert.“
Im Alltag habe er keine Probleme, erzählt Michael. „Eine kurze Hose ziehe ich aber nicht mehr an. Alle starren dann auf meinen Fuß.“ Auch ins Schwimmbad geht er selten. Er kann die ganzen Blicke nur schwer ertragen. „Aber was soll ich machen, dass ist halt jetzt so.“ Oft plagen ihn Phantomschmerzen. Sie kommen, wenn er im Bett liegt. „Es fühlt sich an, als ob dir jemand mit dem Hammer auf den Fuß schlägt.“
Das Faktor-5-Leiden bleibt Teil seines Lebens. „Die Ärzte sagen, dass dasselbe mit meinem rechten Fuß passieren kann.“ Jederzeit könnte ihn wieder eine Thrombose treffen. Wenn er auch nur eine Verletzung vermutet, geht Michael deshalb sofort zum Arzt. Seinen zweiten Unterschenkel will er nicht verlieren.
Auch die Liebe zum Fußball nicht. Der 21-Jährige spielte anfangs in der zweiten Mannschaft in der C-Klasse. Doch wegen einer Verletzung des Stammtorwarts stieg er in die erste Mannschaft auf und spielt seitdem in der A-Klasse. „Da können die wenigstens Fußball spielen“, scherzt er. Humor ist eine Form des Selbstschutzes geworden. Aber eines hat er sich bewahrt: „Ich bin genauso ehrgeizig wie früher. Ich will immer gewinnen.“