München/Berlin – Würde er reden, täte sich das Land mit der Aufarbeitung womöglich leichter. Aber Stephan E. (45) schweigt. Ihm wird vorgeworfen, am 2. Juni Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU, 65) mit einem Kopfschuss getötet zu haben. Seine DNA wurde an Lübckes Kleidung gefunden. Bisher gehen die Ermittler davon aus, dass der Mann mit dem rechtsextremistischen Lebenslauf der Täter ist – und alleine gehandelt hat. Bewiesen ist das aber noch nicht. Viele weitere Fragen sind offen. Warum gerade jetzt? Und was genau trieb ihn an?
Antworten gibt es bisher keine. Aber die politische Debatte ist heftig. Insbesondere die CDU richtet schwere Vorwürfe an die AfD, spricht von Mitschuld. CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte am Mittwoch, am Fall Lübcke lasse sich „ganz deutlich sehen, wie Entgrenzung auch von Sprache, wie Hass und Hetze, wie sie auch von der AfD und von Verantwortlichen der AfD betrieben wird, Hemmschwellen so absenkt, dass sie augenscheinlich in pure Gewalt umschlagen“. Auch Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz sieht eine Mitschuld bei der AfD. „Wir haben es mit einer fatalen Verrohung der Sprache und Umgangsformen zu tun.“ Die Folge seien politische Anschläge“, sagte Merz am Mittwoch bei „Maischberger“. Das sei für Deutschland „eine fatale Entwicklung“.
Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber adressierte konkret Erika Steinbach. Die einstige CDU-Politikerin, heute Vorsitzende einer AfD-nahen Stiftung, hatte im Februar einen Tweet mit Kritik an Lübcke veröffentlicht und darin auf einen Artikel verlinkt, der Lübcke mit der Aussage zitiert, Kritiker könnten das Land jederzeit verlassen, seien sie nicht mit der Asylpolitik einverstanden. Der Tweet zog hasserfüllte und rechtsextreme Kommentare nach sich. Die Gewaltbereitschaft von Rechts, sagte Tauber der „Welt“, nehme zu. „Erika Steinbach demonstriert diese Selbstradikalisierung jeden tag auf Twitter“, so Tauber. „Sie ist ebenso wie die Höckes, Ottes und Weidels durch eine Sprache, die enthemmt und zur Gewalt führt, mitschuldig am Tod Walter Lübckes.“
Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, forderte die AfD auf, ihr „Verhältnis zum Rechtsextremismus zu klären“. Jedem AfD-Sympathisanten müsse klar sein, dass er Rechtsextremen Deckung gebe, sagte Bedford-Strohm im Südwestrundfunk.
Die AFD reagierte empört. Erika Steinbach erklärte, sie sei für die Reaktionen auf ihren dann zurückgezogenen Tweet nicht verantwortlich. „Für einen Kommentar ist immer derjenige verantwortlich, der ihn abgibt.“ Das Verbrechen werde jetzt von politischen Kräften instrumentalisiert, die wegen der anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in Panik geraten seien, sagte Steinbach gestern im Deutschlandfunk
AFD-Fraktionschefin Alice Weidel warf Tauber vor, einen Mordanschlag dazu zu nutzen, den politischen Mitbewerber „auf tiefste Art und Weise“ zu diskreditieren. „Wer gegen illegale Masseneinwanderung kämpft, ist kein Helfershelfer von Mördern. Er nimmt nur seine Rechte im demokratischen Meinungskampf war.“ AfD-Chef Jörg Meuthen warf Tauber vor, aus dem Mord politisches Kapital schlagen zu wollen. „Das ist genauso abstoßend und niederträchtig wie falsch.“
Die Debatte wird begleitet von weiteren Morddrohungen gegen Politiker, unter anderem gegen die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Andreas Hollstein (CDU), Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena. Beide waren schon einmal Opfer von Attentaten.
Hollstein, bekannt für seine humane Flüchtlingspolitik, war im November 2017 von einem Mann in einem Dönerimbiss mit einem Messer am Hals verletzt worden. Das Gericht schloss letztlich einen rechtsextremen Hintergrund aus. Der 56-jährige Täter bekam zwei Jahre Haft auf Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung.
Anders im Fall Reker. Im Oktober 2015 rammte ein damals 44-Jähriger der Politikerin an einem Wahlkampfstand ein Jagdmesser in den Hals. Reker überlebte nach einer Notoperation. Der Täter gab Ausländerhass als Motiv an. Er habe einen politischen Mord begehen wollen. Er erhielt 14 Jahre Haft wegen versuchten Mordes.
Die erneute Morddrohung gegen Reker soll laut WDR ebenfalls rechtsextrem motiviert sein und im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke stehen. Das Landeskriminalamt Berlin ermittelt. Die Berliner leiten seit Januar die Ermittlungen, denn rechtsextreme Drohschreiben gab es schon vor dem Mord an Walter Lübcke. Seit über einem Jahr gibt es eine Serie von Drohschreiben. Mit „Nationalsozialistische Offensive“, „NSU 2.0“ oder „Wehrmacht“ unterschriebene Drohmails gehen an Gerichte und Behörden, Institutionen, Politiker, Anwälte, Journalisten und Prominente. Die Serie umfasste bereits vor rund zwei Monaten mehr als 200 solcher Schreiben.
Der Innenausschuss im Bundestag berät am Mittwoch in einer Sondersitzung über den Mordfall. Neben Generalbundesanwalt Peter Frank sollen das Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamt sowie die hessischen Ermittler Rede und Antwort stehen.
Die designierte neue Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat eine klare Antwort des Rechtsstaats gefordert. Rechter Terror dürfe nie wieder zu Angst führen, sagte sie bei ihrer Vorstellung als Nachfolgerin von Katarina Barley, die ins EU-Parlament geht (siehe Artikel unten). „Wir akzeptieren keine Rechtsextremen in unserer Mitte. Wir lassen nicht zu, dass die Rolle des Rechtsstaates in Zweifel gezogen wird.“