München – Theoretisch lebt er überall, denn er wandert gern. „Bären sind im Gegensatz zu Luchsen oder Wölfen nicht besonders territorial“, sagt Moritz Klose, Wildtierreferent des „World Wide Fund For Nature“ (WWF). Die Streifgebiete messen, je nach Nahrungsangebot, 100 bis 1000 Quadratkilometer, und Bären wandern locker 20 oder 30 Kilometer pro Tag – oder Nacht.
Der Reutte-Bär stammt wohl aus der alpinen Population. Diese umfasst Italien, die Schweiz, Österreich und Slowenien. Etwa 50 Bären leben hier, die Population ist stabil, sogar wachsend. Deshalb könnten demnächst wieder Bären nach Deutschland kommen. „In Slowenien etwa wachsen die Bärenbestände kontinuierlich“, sagt Klose. „Und je mehr Bären es gibt, desto mehr drängt die Population nach außen.“
Ob der Reutte-Bär die Grenze überschritten hat, ist unklar. Seit seinem unfreiwilligen Fototermin gab es keine Sichtung mehr. Es wäre der erste Bär in Bayern seit 2006. Damals sorgte „JJ1“, besser bekannt als „Bruno“, für Aufsehen. Der Bär kam aus dem Trentino-Gebiet. Weil Bruno wiederholt Schafe riss und kaum Scheu vor Menschen zeigte, erklärte ihn der Freistaat zum „Problembären“. Bruno war seit über 170 Jahren der erste Braunbär in Deutschland. Nach vergeblichen Versuchen, ihn lebend zu fangen, wurde er im Spitzingseegebiet geschossen. Heute steht er ausgestopft im Münchner Museum Mensch und Natur. Normalerweise sind Bären zurückhaltende Nachbarn, die man selten zu sehen bekommt. „Der Mensch ist dem Bären relativ egal“, sagt Klose. „Es ist eher so, dass wir Menschen ein Problem mit dem Bären haben.“ Braunbären wurden jahrhundertelang gejagt, teilweise ausgerottet.
In Bayern kam das Ende 1835. Forstamtsaktuar Ferdl Klein schoss am Schwarzachenbach bei Ruhpolding den letzten bayerischen Bären. „Raubtiere wie die Bären wurden in ganz Europa verdrängt“, sagt Marcel Sebastian. Er ist Soziologe an der Uni Hamburg, forscht über das Verhältnis von Mensch und Tier. Der Mensch habe über die Jagd seinen Herrschaftsraum gesichert. „In Deutschland haben wir fast flächendeckend Landwirtschaft oder urbane Strukturen, viel Lebensraum für die Menschen – da ist wenig Platz für Wildtiere.“
In dünn besiedelten Gebieten Europas hat der Bär überlebt. 17 000 bis 18 000 Bären gebe es in Europa, sagt Klose, „mit Schwerpunkten in Skandinavien und im Karpatenraum“. Dort findet er noch große Waldgebiete mit viel Nahrung. Der Allesfresser ernährt sich von Beeren, Früchten, Nüssen, aber auch von kleineren Tieren.
Seit einigen Jahren geht es mit dem Bären wieder aufwärts. Denn die Umweltpolitik in Europa ist im Wandel. Erst gab es die Berner Konvention, dann die FFH-Richtlinie, in der sich die EU-Staaten zu einem europaweiten ökologischen Netz biologischer Vielfalt verpflichteten. Es gibt wieder viele Bärenvölker, die stabil sind oder wachsen, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien bis nach Griechenland, im Baltikum, Ost-Balkan, in den Pyrenäen, Apenninen, im spanischen Kantabrien. Der Bär soll mehr Lebensraum bekommen.
Das begeistert nicht jeden. „Aus der Distanziertheit heraus kann man natürlich sagen: So ein Bär ist etwas Tolles. Er ist ein Indikator für Biodiversität und für gesunde Wälder“, erklärt Sebastian. „Doch das ändert sich in dem Moment, wo sich die Rahmenbedingungen ändern. Tritt der Bär auf die Bühne, wird das Abstrakte konkret – und die Menschen müssen sich mit ihm auseinandersetzen.“ Zwar, sagt der Soziologe, habe die „Wildnis“ wieder einen höheren Stellenwert. „Aber man muss klären: Was ist mit dieser Wildnis genau gemeint?“ Wenn es heiße, es gibt in den Bergen ein Stück Wald, da leben Bären, „das finden wir super“. Raubtiere als Nachbarn, das fänden die meisten aber nicht so toll.
Überall in Europa gibt es Diskussionen. In Frankreich gab es im Herbst Proteste von Hirten gegen das Aussetzen zweier Weibchen in den Pyrenäen. Sie sollen den Braunbär-Bestand sichern, es gab in dieser Gegend nur noch zwei Männchen. Die Hirten waren erbost: Im Sommer 2017 hatte ein Bär in den Pyrenäen eine Schafherde angegriffen, 209 Tiere stürzten auf der Flucht in eine Schlucht. Die Proteste waren heftig, die Behörden setzten die Bärinnen dennoch aus, per Helikopter.
In Rumänien gibt es immer wieder Berichte über Angriffe auf Menschen. Vor wenigen Wochen wurde ein Niederbayer in den Karpaten von einer Bärin schwer verletzt. Manche Rumänen reden von einer Bärenplage, seit die Regierung 2016 die Bärenjagd verbot. „Ja, die Bejagung ist ein großes Thema“, sagt Klose. „In Skandinavien und in den Karpaten hat das Tradition.“ In Schweden werden 200 bis 300 Bären pro Jahr geschossen. „Aber auch darüber wird viel diskutiert“, sagt Klose.
Der Bestand in Skandinavien ist einer der größten Europas, aber auch der einzige mit rückläufiger Population. Zudem beansprucht auch dort der Mensch mehr Platz. „Ist der Müll ungeschützt, nähern sich Bären den Siedlungen, weil sie dort leicht Nahrung finden“, sagt Klose. Bärensichere Müllbehälter sollen helfen. Auch der Straßenbau birgt Konflikte. 2018 starb ein Slowake bei einem Autounfall, verursacht von einem Bären.
Doch Klose ist sich sicher: Es geht auch harmonisch. Der WWF versucht, in Projekten das Zusammenleben von Wildtier und Mensch vorzubereiten und zu begleiten – überall dort, wo Wildtiere leben oder bald wieder leben werden. Menschen in diesen Gebieten sollen erfahren, wie man mit Wildtieren richtig umgeht. Und es soll Programme zum Schutz von Weidetieren geben, auch für Imker. „Alle, die vom Bären betroffen sind, müssen mitgenommen werden – idealerweise als Teil des Bärenmanagements.“
In Slowenien hat Klose mit Jägern geredet, die froh sind über die Bären. „Sie wollen sie nicht abschießen, sondern die Bären für Touristen erlebbar machen, mit Beobachtungsstationen zum Beispiel.“ Auch in den Pyrenäen hat ein Schäfer einen neuen Weg eingeschlagen: Er verkauft jetzt Käse, auf dem eine Bärentatze eingedrückt ist. „Die Leute kaufen den Käse gerne, weil er etwas Besonderes ist“, berichtet Klose. Der Bär als Marke. Ist das der Weg? „Einen ,richtigen‘ Weg gibt es nicht“, sagt Soziologe Sebastian. Sondern nur den, auf den man sich einige. „Es ist aber eine gewiefte Möglichkeit, aus der Not eine Tugend zu machen.“ Weil sie Alternativen biete zwischen hilflosem Akzeptieren und radikalem Bekämpfen.
Und der Bär aus Reutte, sollte er tatsächlich in Bayern auftauchen? „Klimawandel und Artensterben werden heiß diskutiert, auch das Aussterben vieler Wildtiere“, sagt Sebastian. „Wir beginnen zu begreifen, dass auch Bienen und andere Insekten wichtig sind. Davon profitiert so ein Bär, es ist gerade eine ganz gute Zeit für ihn.“ Solange er sich anständig benimmt. „Es hängt schon sehr stark von seinem Verhalten ab, wie er von uns interpretiert wird“, sagt Sebastian. „Ist er ein ,Problembär‘ oder verhält er sich so, wie es sich das Landesforstamt vorstellt? Dann könnte er Glück haben.“