Die grünen Engel von Harlaching

von Redaktion

Sie machen Mut, erledigen Besorgungen – oder hören einfach nur zu. Seit zehn Jahren kümmern sich die „Grünen Damen und Herren“ um die Patienten im Münchner Klinikum Harlaching. Die Ehrenamtlichen helfen da, wo Ärzten und Pflegern die Zeit fehlt.

VON ANNE-NIKOLIN HAGEMANN

München – Der Tag beginnt im Keller, in einem einfachen Raum ohne Fenster. Ordentlich aufgereiht hängen hier die grünen Kittel. Gaby Nießen-Daur zieht einen über, steckt das Mobilteil des Telefons in die Tasche. Es ist 8.45 Uhr, in 15 Minuten beginnt ihre Schicht. Die zierliche blonde Frau mit dem breiten Lachen ist weder Krankenschwester noch Ärztin. Die 63-Jährige ist Einsatzleiterin der „Grünen Damen und Herren“ im Klinikum Harlaching.

Die „Grünen Damen und Herren“, das sind Ehrenamtliche der Johanniter. Grün, weil sie sich in zartgrüner Kleidung „um die Erfüllung vielfältiger kleiner nicht-medizinischer und nicht-pflegerischer Wünsche“ der Patienten kümmern. Täglich von 9 bis 12, auch am Wochenende, erreichbar rund um die Uhr per Telefon mit Anrufbeantworter und Mobilteil. So steht es in dem Flyer, den Patienten bei der Aufnahme in die Hand bekommen. Gaby Nießen-Daur sagt in vier Worten, worum es geht: „Zuhören und Zeit haben.“

Auf einem kleinen Tisch liegt das grüne Buch, in das Gaby Nießen-Daur notiert, wer was wann erledigt. An der Wand sind Dienst- und Stationspläne festgepinnt. Jeden Tag werden vier andere Stationen besucht, dazu die Notaufnahme, die Patientenanmeldung – und wer immer sonst noch Hilfe braucht.

Unter der Woche sind täglich drei, meist vier der Helfer im Einsatz, am Wochenende sind sie meist zu zweit. Heute sind das außer Gaby Nießen-Daur noch Gertrud Kroner, 68, Christa van Heck und Maria Schweitzer, beide 78. Rund 180 „Grüne Damen und Herren“ gibt es in München, 26 davon kommen in diese Klinik – 23 Damen, drei Herren. „Die Herren sind heiß begehrt“, sagt Gertrud Kroner und lacht.

Es geht auf Station. Jede hat einen bunten Korb mit Notizblock und Stift dabei, manchmal Besorgungen für Patienten, und eine Flasche Wasser. Bei den Pflegern fragen sie nach, ob es Patientenwünsche gibt. Dann klopfen sie an jede Tür. Wenn der bunte Korb vor einem Zimmer steht, heißt das: sie sind drin.

Neuen Patienten müssen die Grünen Damen ihre Arbeit erst erklären. Sie fragen, ob es etwas gibt, wobei sie helfen können, ob der Patient spazieren gehen oder vorgelesen bekommen möchte. Oder einfach ein bisschen plaudern. „Und dann schau mer mal“, sagt Christa van Heck. „Von 100 Menschen stoßen wir bei 25 auf Ablehnung. Die restlichen 75 überschütten uns eher mit Dankbarkeit.“ Sie hat auch schon erlebt, dass jemand das Johanniter-Kreuz auf ihrer Brust gesehen und vor ihrem ersten Wort gerufen hat: „Ich hab‘ kein Geld, ich kann nichts spenden!“

Der erste Besuch gilt Hanna (Name geändert), sonnengebräunt, bunter Einteiler, breites Lächeln. „Sie sehen aus, als kämen sie aus dem Urlaub“, sagt Christa van Heck. Hanna ist seit sechs Wochen hier, ihre Beine streiken. Spazieren geht sie mit ihrem Mann, Besorgungen erledigt der auch, ihr Nachttisch ist übervoll. Aber sie plaudert gerne mit den Grünen Damen, über die Hitze, darüber, dass sie früher in der Modebranche gearbeitet hat – und über einen Professor der Klinik, „ein toller Mann!“.

Hanna steckt an mit ihrer guten Laune. „Viele verlieren den Mut hier drin“, sagt sie. Seit sie hier ist, hat sie einige Bettnachbarinnen aufmuntern müssen. Aber Hanna kann ja nicht überall sein – schon allein deswegen findet sie es bewundernswert, was die Grünen Damen leisten: „Toll, dass es Sie gibt!“, sagt sie und drückt die Hand von Christa van Heck ganz fest. Gaby Nießen-Daur räumt gerade noch Hannas Nachttisch etwas auf, da klingelt das Telefon in ihrer Tasche. Sie zückt Block und Stift, schreibt und nickt. Haben wir, holen wir, bringen wir. Dann, überrascht: „Pril? Wirklich Spülmittel?“

Viele kommen ohne Gepäck in die Notaufnahme. Deo, Zahnbürste, Hygieneartikel, frische Kleidung – so etwas haben die Grünen Damen vorrätig. Mit einer Vollmacht können sie auch Dinge aus der Wohnung holen oder Geld vom Geldautomaten, dann immer zu zweit. Was Patienten sonst noch möchten, wird besorgt, auch mal die Tüte Chips, die Zwei-Liter-Flasche Cola oder die Packung Zigaretten. „Wir sind ja keine Moralapostel!“, sagt Nießen-Daur. Auch Wellensittiche haben sie schon gefüttert. Nur nach Spülmittel hatte bisher niemand gefragt.

Hanna verabschiedet sich winkend. Die Grünen Damen ziehen weiter. Wenn sie durch die Klinikflure gehen, haben sie ein Lächeln für jeden, der sonst vielleicht übersehen wird. Zum Beispiel den schmalen Herrn, der an der Wand lehnt, gestützt auf seinen Rollator. Alles in Ordnung, sagt er, er mache nur kurz Pause. Oder die junge Frau im Rollstuhl mit Kanüle im Arm. „Geht’s besser?“, fragt Nießen-Daur. „Nein“, sagt die Frau und beginnt zu reden. Nießen-Daur hört zu. Die 63-Jährige strahlt Nahbarkeit aus, hat keine Angst vor ehrlichen Antworten. „Man muss das aushalten können.“

Es gibt Patienten, mit denen man lachen kann, aber auch die, denen mehr nach weinen ist. Gaby Nießen-Daur erzählt von einem jungen Krebspatienten mit kahlem Kopf, von den Eltern mit ihrem still geborenen Kind im Arm, das die Ärzte in ein kleines Nest mit weißem Tuch gelegt hatten. Gudrun Kroner denkt an die junge Frau aus Eritrea, die hier ihr Kind bekam, ohne Vater, ängstlich, verzweifelt. Der es schon half, eine Kerze anzuzünden. „Dafür hat sie sich jeden Tag bedankt“, erzählt sie.

Gefühle zeigen, mitlachen, mitweinen. All das tun die Grünen Damen. „Wir sind ja keine Maschinen“, sagt Christa van Heck. Jeden Tag sprechen sie beim Mittagessen über die Fälle, die sie bewegt haben. Das ist wichtig. Gaby Nießen-Daur sagt: „Man muss Geschichten aber erst mal abhaken können, wenn man eine Tür hinter sich zumacht. Ich kann ja nicht mit Tränen im Gesicht zum nächsten Patienten gehen.“

Die nächste Patientin ist Ines (Name geändert). Sie ist bester Dinge, vor allem jetzt, da Maria Schweitzer ihr eine große Kanne Pfefferminztee mitgebracht hat. Zum Frühstück gab es Kaffee, „aber den mag sie doch nicht“, sagt Schweitzer. Ines kennt Maria Schweitzer schon lange. Fast 20 Jahre lang hat die ihr in einer Harlachinger Bäckerei Semmeln verkauft. Ines war froh, im Krankenhaus ein bekanntes Gesicht zu sehen. „Hier zu liegen, ist ja schon eine Situation, die mit Angst besetzt sein kann.“ Sie bekommt oft Besuch von ihrer Familie, die große Enkelin hat ihr ein Stofftier genäht, die kleine ein Bild gemalt. „Aber für jemanden, der einsam ist oder hilflos, sind die Grünen Damen und Herren eine große Erleichterung.“

Mit vielen Patienten, die länger hier liegen, baue man eine Beziehung auf, sagt Gaby Nießen-Daur. Und einige fragen: „Kommen Sie mich auch zuhause weiter besuchen?“ Das gibt einen kleinen Stich im Herzen. Von jeder Begegnung, sagen die vier Grünen Damen, profitieren auch sie selbst. Da ist die Dankbarkeit, schon für kleine Gesten. Da sind die Patienten, die inspirieren mit ihrer Stärke, ihrem Optimismus. Die, die einem Einblick in ihr Leben gewähren, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen.

Und da ist das Gefühl, etwas Gutes tun zu können. Maria Schweitzer sagt, schon wieder auf dem Weg zum nächsten Patienten: „Neulich hat mal jemand gesagt: Eigentlich sind Sie ein grüner Engel. Das fand ich schön.“ Die anderen lächeln. Noch zwei Stunden bis zum Mittagessen. Der Tag hat gerade erst angefangen.

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