Die Proteste in Hongkong reißen nicht ab. Aber worum genau geht es in dem Konflikt? Ein Gespräch mit Hans van Ess, Professor am Lehrstuhl für Sinologie der Ludwig-Maximilians-Universität.
Das Auslieferungsgesetz ist vom Tisch, die Proteste dauern an. Warum?
Es ist eine sehr schwierige Gemengelage. Die Menschen merken immer mehr, dass die Integration in die Volksrepublik China dazu führt, dass die Bedeutung Hongkongs nachlässt, es einen starken Zuzug von Festland-Chinesen gibt und sich die Atmosphäre in der Stadt verändert. Das Profitieren vom wirtschaftlichen Sonderstatus, den Hongkong hatte, wird für die junge Generation immer schwieriger. Die Stimmung hat sich bei vielen, die wirklich aus Hongkong kommen, verschlechtert. Die Ängste, China könne Hongkong die Freiheit nehmen, sind groß.
Der echte Hongkonger fühlt also anders als ein Chinese vom Festland?
Ich denke schon. Aber es gab auch immer schon eine große prochinesische Gruppe in Hongkong. Der chinesische Patriotismus ist stark verankert. Das liegt auch daran, dass die Briten nie so wirklich versucht haben, eine Demokratie zu etablieren. Bis zu den letzten Wahlen 2016 war eine prochinesische Partei immer die stärkste. Die Proteste sind also keineswegs das, was die gesamte Bevölkerung empfindet. Es gibt auch Gegenproteste von Hongkongern, die die Demonstranten für Ruhestörer halten. Darüber wird hier kaum berichtet.
Die Bevölkerung Hongkongs ist gespalten.
Sie ist sehr gespalten. Die Geschichte Hongkongs ist kompliziert. Als die Briten 1840 nach dem Opiumkrieg die Insel als Kolonie aufgemacht haben, war das ein Felsen, auf dem nicht viel stand. Hongkong kam eigentlich durch Zuwanderung zustande. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 sind viele Unternehmer, die dort keine Heimat mehr hatten, nach Hongkong gegangen. Dennoch ist es so, dass Hongkongs Hauptbevölkerung Kantonesisch spricht, einen Dialekt, den ein Pekinger nicht versteht. Jetzt sind viele Chinesen zugewandert. Ohne Immigration könnte man in Hongkong viele Arbeiten gar nicht mehr machen, auch an Universitäten. Hongkong hat eine der weltweit geringsten Geburtenraten mit 1,2 Kindern pro Frau. Die Stadt ist in einem unheimlichen Wandel, der für viele schwer zu verarbeiten ist. Viele Taxifahrer hören inzwischen Radiosender auf Hochchinesisch. Das alte hongkongische Lebensgefühl schwindet.
Von wem werden die Proteste denn getragen?
Sehr stark von jungen Leuten. Sie haben Unterstützung aus dem liberal-demokratischen Lager und von vielen anderen Gruppen. Es gibt eine starke Falun-Gong-Bewegung, der Peking eine Verbindung zum US-amerikanischen Geheimdienst nachsagt. Oder Uiguren und Tibeter, die in Hongkong anders als in China agieren können. Deswegen ist China auch so an dem Auslieferungsgesetz interessiert. Viele Hongkonger interessieren sich aber nicht so sehr für Demokratie. Sie wollen Geschäfte machen. Hongkongs Reichtum gründet auf dem Handel mit China. Ohne China würde Hongkong gar nicht funktionieren. Die Mittel- und Unternehmerschicht will keinen Konflikt mit China. Bei den Studenten ist das anders. Die sehen das im Moment als letzte Chance, sich Richtung Westen zu entwickeln. Sie wollen europäische Freiheitsrechte.
Gibt es dafür eine Chance?
Es wird am Ende zugunsten Chinas ausgehen. Die wirtschaftlichen Interessen sind so eindeutig, dass ich nicht glaube, dass eine Mehrheit in Hongkong bereit ist, das preiszugeben. Hongkong ist Finanzzentrum, aber vor allem eine Drehscheibe für den Außenhandel Chinas. Händler aus aller Welt sitzen in Hongkong. Der Hafen hat eine ungeheure Bedeutung. Die Produktion, zum Beispiel bei der Textilindustrie, wird zwar vielfach von Hongkong aus verwaltet, liegt aber in China. Da steckt viel Geld aus Hongkong drin. Die beiden Wirtschaftsräume sind eng miteinander verflochten.
Dann sollte doch auch China an einem starken Hongkong interessiert sein.
China will sicherlich, dass Hongkong stark bleibt, aber es will Hongkong als Motor ohne Sonderstellung. China will, dass sich die Lebensverhältnisse angleichen und eine Art Metropolregion entsteht. Die Entwicklung wird durch viele Maßnahmen unterstützt, zum Beispiel den Aufbau von Verkehrslinien. Letztes Jahr ist eine 27 Kilometer lange Brücke nach Macau entstanden, damit man mit dem Bus aufs Festland kommt. Für Hongkong bedeutet das, dass der Wohlstand kleiner werden wird.
Es überrascht nicht wirklich, dass China das so will.
Das ist tatsächlich keine überraschende Entwicklung. Lange sah es auch so aus, als würde alles sanft vonstatten gehen, aber jetzt ist Sand im Getriebe. Die Proteste sind ein empfindlicher Rückschlag für China.
China hat scharfe Drohungen ausgesprochen. Wird Peking bald eingreifen?
China hat eigentlich kein Interesse daran, einen Konfliktherd aufzumachen. Es steht durch Trump genug unter Druck, will sich keine neuen Vergeltungsmaßnahmen des Westens einhandeln. Wenn Peking aber den Eindruck bekommt, dass Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam die Lage gar nicht mehr im Griff hat, werden sie Einsatzkräfte schicken. Das wird kein Militär sein, sondern gut geschulte Polizisten. Aber noch ist es eine Drohkulisse.
Was würde der Westen dann tun?
De facto gehört Hongkong zu China. Ich glaube nicht, dass der Westen viel tun würde, solange seine Geschäftsinteressen nicht berührt sind. In Hongkong sitzen viele Industrievertreter. Es würde sicher zu erheblichen wirtschaftlichen Störungen und Diskussionen kommen, inwieweit man noch mit Hongkonger Firmen zusammenarbeiten kann. Aber letztlich hat keiner ein Interesse daran, dass Hongkong erlahmt.
Könnte es zu einem Blutvergießen kommen wie 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens?
Ich glaube nicht. Ich denke, dass Spezialeinsatzkräfte die Situation ohne Blutvergießen schnell unter Kontrolle hätten. Ich glaube auch nicht, dass Hongkong zu einem Krisenherd wird, der die Welt in eine Schieflage bringt. Aber das ist meine persönliche Einschätzung. Der Blick in die Glaskugel ist schwierig.
Interview: Wolfgang Hauskrecht