Die Judenretter von Schnaitsee

von Redaktion

„Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Das ist ein Zitat aus dem babylonischen Talmud. Im oberbayerischen Schnaitsee ist im Mai 1945 genau so etwas passiert. Jetzt, 74 Jahre später, wurde ein mutiges Ehepaar geehrt.

VON ANDREA KLEMM

Schnaitsee – „Cäcilia und Michael Köhldorfner haben zwei Juden vor der SS gerettet und damit zwei Familien das Leben geschenkt“, sagt Sandra Simovich, Generalkonsulin des Staates Israel für Süddeutschland in München, bei einer einzigartigen Ehrenzeremonie auf dem Anwesen der Familie Köhldorfner. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat am Montagabend zum ersten Mal in ihrer Geschichte Judenretter am Ort des Geschehens ausgezeichnet: nämlich in Stangern bei Schnaitsee, Kreis Traunstein.

Hier steht die Scheune, in der sich vor 74 Jahren im noch bitterkalten Mai die beiden Juden Henrick Gleitman und Bernhard Hampel unter dem Dach vor der SS versteckt hatten. Die Männer aus Krakau waren auf einem Todesmarsch der SS. Sie sollten aus dem KZ Flossenbürg nach Dachau getrieben werden. Dort im KZ sollten sie sterben.

„Sie sind dann bei einer Übernachtung im Stadl eines anderen Bauern ausgebrochen, weil sie wussten, sie werden sowieso erschossen“, erzählt Michael Köhldorfner junior, der den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ für seine verstorbenen Eltern entgegennahm. Für diesen stolzen Moment hat sich die ganze Familie Köhldorfner versammelt. Und auch die Nachkommen von Henrick Gleitman – Tochter Lilian, Sohn David und die Enkel Yvette und Greg – sind extra aus New York angereist.

„Zu ,Gerechten unter den Völkern‘ werden Nichtjuden, die ihr eigenes Leben und das ihrer Familien riskiert haben, um Juden zu schützen“, erklärt Sandra Witte von der israelischen Botschaft in Berlin (siehe unten). Das Prüfverfahren sieht vor, dass Zeitzeugenberichte und Unterlagen ausgewertet werden müssen, damit die Gedenkstätte in Jerusalem diese Ehrung vergeben darf. Ein weiteres Kriterium: Die Helfer dürfen keine Gegenleistung verlangt haben, sondern müssen aus Menschlichkeit gehandelt haben.

Endlose Kolonnen mit Häftlingen wurden im Winter 1944 bis Mai 1945 auf die Todesmärsche geschickt. Witte sagt: „Gegen Ende des Krieges waren Tausende auf dem Weg, sie starben an Entkräftung oder wurden erschossen.“

An den Anblick der beiden Männer erinnert sich der heute 81-jährige Michael Köhldorfner junior noch genau. „Abgemagert, halb verhungert, ein paar Kleiderfetzen am Leib und Zementsäcke statt Schuhe an den Füßen. Mehr haben’s nicht g’habt. So standen die Männer plötzlich vor unserem Vater in der Scheune. Ich war sieben Jahre alt und bin ihm hinterher, als er mit dem Gewehr im Anschlag reinging, nachdem er ein Geräusch gehört hatte.“

Erst am Tag zuvor hatten die Nazi-Schergen, die den Todeszug überwachten, zwölf Häftlinge erschossen und am Straßenrand bei Schnaitsee liegen lassen.

„Herr Gleitman, der mir später seine ganze Leidensgeschichte geschildert hat, glaubte unserem Vater anfänglich nicht, dass er ihm helfen wollte“, erzählt Michael Köhldorfner junior. „Er dachte, der würde die beiden beherbergen, um sie später wieder schikanieren, foltern und dann töten zu können.“

Doch so war der Vater nicht. „Wenn irgendjemand ein Problem hatte, hat unser Vater geholfen“, beschreiben ihn Michael und sein jüngerer Bruder Alois, der damals auch vor der Scheune gestanden hat. Deshalb nahm er die halb verhungerten Gestalten mit nach Hause. Dort waren in der Stube schon Betten aufgebaut – für zwei SS-Offiziere, die hier nur eine Nacht zuvor geschlafen hatten. Die Unterkunft hatten sie auf ihrer Durchreise beschlagnahmt.

Und nun schliefen hier also Hampel und Gleitman. „Unsere Eltern haben ihnen alte Kleider von sich gegeben. Dann legten sich die Männer ins Bett“, erinnert sich Michael Köhldorfner junior.

Über den dramatischen Verlauf der Nacht gibt es leicht abweichende Versionen, die in den Akten von Yad Vashem dokumentiert sind. Sicher ist aber, dass die SS-Männer kurz darauf auf den Hof der Köhldorfners zurückgekehrt sind, weil sie eine Schreibmaschine vergessen haben. Geistesgegenwärtig hat Michael Köhldorfner die beiden Juden kurzerhand als polnische Arbeiter ausgegeben, die zur Arbeit auf dem Hof gebraucht werden. Michael Köhldorfner junior erinnert sich so: „Der Offizier schaute meinen Vater scharf an und sagte: ,Ich kenn mich scho aus.‘ Dann ging er.“ Henrick Gleitman und Bernhard Hampel waren gerettet.

Für diesen Akt der Nächstenliebe hätte man das Ehepaar Köhldorfner damals standrechtlich erschießen können. „Die Eltern riskierten alles, um zwei Schutzlosen, zwei fremden Menschen zu helfen“, sagt Generalkonsulin Sandra Simovich. „Die Zivilcourage der Retter, ihren jüdischen Mitmenschen beizustehen und dabei ihr eigenes Leben zu riskieren, ist als ein Leuchtturm in der Finsternis anzusehen.“

Michael und Cäcilia Köhldorfner haben Gleitman und Hampel in ihrer dunkelsten Stunde beigestanden. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den Familien der Retter und der Geretteten. Während der Kontakt zu Hampel in den 1980er-Jahren abriss, besuchten Gleitman, der in die USA auswanderte, und seine Frau Rachel die Schnaitseer 1984.

Zur Ehrenzeremonie sind nun die Nachkommen angereist. Gleitmans Enkel hat seit fünf Jahren regen E-Mail-Kontakt zu den Köhldorfners. Er war es, der nach Fotos und Unterlagen fragte – um die Rettungsgeschichte in Yad Vashem einzureichen.

Voller Rührung nahm am Montagabend der älteste Sohn der Retter, Michael Köhldorfner junior, die Medaille und die Auszeichnung gemeinsam mit seinem Bruder Alois entgegen. Er versprach, die Urkunde sorgsam zu verwahren – im Sinne eines guten Zusammenlebens zwischen Christen und Juden. „Und uns dem Antisemitismus immer entgegenzustellen.“

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