München – Renzo Vitale schließt die Augen und sammelt sich. Gleich wird der Komponist zum ersten Mal die endgültige Fassung seiner neuesten Schöpfung hören. Vitale hebt die Hand. Auf sein Zeichen hin schwellen – erst ganz leise, dann zunehmend lauter – die Klänge an, an denen er lange gefeilt hat. Der Ort dieser Premiere: Ein Akustik-Prüfstand von BMW in München-Freimann. Das „Instrument“, das Vitales Komposition erklingen lässt: ein Sportwagen, genauer ein elektrisch angetriebener BMW i8 Roadster.
Renzo Vitale (40) ist nicht nur Komponist und studierter Pianist, er ist auch diplomierter Akustik-Ingenieur. Als Jugendlicher begeisterte sich der Italiener für elektronische Musik. Er hat einen Beruf gefunden, der all diese Leidenschaften vereint. Als Sounddesigner arbeitet er bei BMW am Klang der Mobilität von morgen. Den Ersatz für das, was für viele Autos ihr eigentliches Markenzeichen war: der Klang des Motors.
Eine Herausforderung, für die sich deutsche Autohersteller neben professionellen Sounddesignern auch Hollywood-Ikonen ins Cockpit holen. Für das Konzeptauto BMW Vision M Next hat Vitale mit Hans Zimmer zusammengearbeitet, dem Oscar-prämierten Filmmusiker, der als Produzent verantwortlich war für die Musik in „König der Löwen“, „Fluch der Karibik“ oder dem Rennfahrer-Film „Tage des Donners“. BMW-Kunden sollen den Zimmer-Sound künftig gegen Aufpreis im Inneren ihres Fahrzeugs erleben können.
Anders als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor können Elektroautos gerade bei niedrigem Tempo geräuschlos dahingleiten. Für Fußgänger ist das ein Problem. Sie orientieren sich im Verkehr nicht nur mit den Augen. Und Menschen mit Sehbehinderung sind sogar allein auf ihr Gehör angewiesen.
Blindenverbände haben lange um die verpflichtende Einführung eines akustischen Fußgängerschutzes gekämpft. Studien aus den USA zeigten schon vor Jahren, dass Elektro- und Hybridfahrzeuge, verglichen mit ihrer Anzahl, deutlich öfter an Unfällen mit Fußgängern oder Radlern beteiligt waren als Autos mit Verbrennungsmotor. Besonders bei langsamen Fahrmanövern: Beim Rangieren oder beim Rückwärtsfahren lag die Unfallquote doppelt so hoch wie bei Verbrennern.
Noch fahren nicht allzu viele Elektroautos durch deutsche Städte. Spezifische Unfallstatistiken fehlen in Europa. Jedoch gibt es schon jetzt immer wieder Berichte über Fußgänger-Unfälle mit Stromern. Im Juli etwa überrollte im nordrhein-westfälischen Lohmar ein E-Auto im Rückwärtsgang einen blinden Fußgänger.
„Aus meinem Umfeld kenne ich zahlreiche Schilderungen von Beinahe-Unfällen“, sagt Bernhard Claus vom Bayerischen Blinden- und Sehbehinderten-Bund. Trotzdem habe sich die Autobranche lange gegen die Einführung von sogenannten „Acoustic Vehicle Alerting Systems“, kurz AVAS, gewehrt. Seit diesem Sommer muss nun aber jeder neu entwickelte Fahrzeugtyp ein AVAS haben, um in der EU genehmigt zu werden.
Technisch ist ein AVAS kaum mehr als ein Set von Lautsprechern, das digitale Tondateien abspielt. Die Anforderungen: Das Verhalten des Fahrzeugs muss hörbar sein. Es muss also beim Beschleunigen anders klingen als beim Bremsen, und dabei lauter und leiser werden. Eine bestimmte Bandbreite von Tonhöhen muss ausgesendet werden, weil ältere Menschen einige Frequenzen schlechter hören. Auch Höchst- und Mindestlautstärke sind geregelt. Bis Tempo 20, wenn Fahrtwind und Reifengeräusche hörbar werden, muss das AVAS aktiv sein. Sonst haben die Entwickler ziemlich viele Freiheiten.
Freiheiten, die Fragen aufwerfen. Wie ersetzt man das Aufheulen, Röhren, Dröhnen eines Benzin- oder Dieselmotors? Wie schafft man einen unverkennbaren Klang, der Passanten nicht nur signalisiert, wie schnell sich ein Auto nähert, sondern auch, ob ein BMW, Audi oder VW vorbeifährt? Und sollen die Fahrer das Gleiche hören? Bei Mercedes will man das so handhaben. BMW entwickelt für den Innenraum nochmal eine eigene Klangkulisse.
Sounddesigner sind in den Entwicklungszentren der Hersteller keine neue Erscheinung. Bisher befassten sie sich aber eher damit, wie eine Autotür klingt, wenn sie ins Schloss fällt und was die Fahrzeuginsassen beim Abbiegen hören sollen. Auch solche akustischen Feinheiten sind Teil der Markenidentität. „Es kann Monate dauern, am richtigen Tick-Tock für einen Blinker zu arbeiten“, sagt Vitale. Am wichtigsten war aber stets das Motorengeräusch. Sattes Röhren für einen Sportwagen, unauffälligere Klänge für Serienautos wie den Golf.
Renzo Vitale sagt, ihm werde heute noch warm ums Herz beim Gedanken an den Klang des alten Fiat 126 seiner Mutter. Wenn er ihn aus der Ferne hörte, wusste er: Mama kommt nach Hause. „Klänge sind mit Emotionen und Erinnerungen verbunden“, sagt er. „Heute gestalten wir die Erinnerungen der Kinder von morgen.“
Und wie entstehen diese Klänge? Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben werden für AVAS oder Innenraum-Sound verschiedene Klänge digital zusammengesetzt. „Wie eine Partitur aus Klangkulissen“, sagt Vitale. Sein Arbeitsplatz ist ein kleiner Raum im BMW-Entwicklungszentrum. Darin: ein Computer, ein elektronisches Klavier und ein paar weitere elektronische Musikinstrumente, teils Bausätze aus dem Internet. An der Wand Bilder von Künstlern, die ihn inspirieren.
Manchmal bekomme ihn tagelang niemand zu Gesicht, sagt Renzo Vitale. Er ist dann „auf Schatzsuche“, wie er es nennt. „Ich experimentiere mit neuen Sounds, indem ich sie aufnehme und in ihre Bestandteile zerlege. Am Ende bleiben einzelne Fragmente übrig, aus denen etwas völlig Neues entstehen kann.“
Mit verschiedenen Vorschlägen geht es in einen langen Entwicklungsprozess mit zahlreichen Meetings. Die Abstimmung mit anderen Ingenieuren ist unerlässlich. Schon kleine Veränderungen am Auto können die gesamte Akustik verändern.
Aber wie klingt er nun, der elektrische BMW von morgen? Das mit Worten zu beschreiben, fällt selbst Vitale schwer. „Man soll den Sound als etwas eigenes wahrnehmen, möglichst nicht erkennen, aus welchen Elementen er sich zusammensetzt.“
Für den kleinen BMW-Stromer i3 gibt es bereits seit 2013 ein AVAS. Anders als andere Hersteller verbaute es BMW zwar bislang nicht serienmäßig. Und wie viele Kunden es gegen Aufpreis erworben haben, kann das Unternehmen auch nicht beziffern. Die i3-Stromer in der BMW-Carsharing-Flotte seien aber mit AVAS ausgestattet. Der Klang: irgendetwas zwischen anfahrender Straßenbahn und Raumschiff aus einem Science-Fiction-Film.
Viele Elektroautos klingen bei niedrigem Tempo aber weiterhin erst mal gar nicht. Alle vor Juli 2019 genehmigten Fahrzeugtypen dürfen bis 2021 ohne AVAS vom Band rollen. Danach werden die älteren Fahrzeuge noch jahrelang in den Städten unterwegs sein. Eine Nachrüstpflicht besteht nicht.
Nicht nur deshalb gehen die neuen Regeln für Sehbehinderten-Verbände nicht weit genug. „Wir sehen auch die Abschalt-Option kritisch“, sagt Bernhard Claus vom Bayerischen Blinden- und Sehbehinderten-Bund. So sieht es auch die Unfallforschung der deutschen Versicherer. Die AVAS-Systeme schalten sich beim Anlassen ein, müssen laut Gesetz aber abschaltbar sein.
In Foren für Autobastler wird längst darüber gefachsimpelt, wie man es hinbekommt, dass sie sich gar nicht erst einschalten. Den E-Autos Klänge zu verpassen, die die Fahrer auch akzeptieren, ist Teil der Herausforderung für Sounddesigner wie Renzo Vitale.