Das mörderische Kriegsfinale in Oberbayern

von Redaktion

Vor 75 Jahren neigte sich der Krieg dem Ende entgegen. Noch einmal bäumte sich das NS-Regime gegen den Untergang auf – Fanatiker und Unbelehrbare machten das Kriegsende in Bayern zu einem mörderischen Finale.

VON DIRK WALTER

München – An den Ufern des Chiemsees war man bis Herbst 1944 von Kriegsschrecken weitgehend verschont geblieben. Und so war es kein Wunder, dass die Mutter von August Meier vor Angst fast vom Stuhl fiel, als dann Anfang November bei Gollenshausen-Gstadt um die Mittagszeit eine Fliegerbombe in den See platschte. „Allgemeine Aufregung, besonders die Mama“, notierte August Meier, Jahrgang 1875, unter dem 5. November 1944 in sein Tagebuch. Unter demselben Tag berichtete er von „Fliegerrummel bei München“, am 18. November dann die Zeilen: „Mama ängstigt sich sehr vor den uns überfliegenden Feindgeschwadern.“ Und so ging es weiter. Am 20. November: Flieger. Am 24. November: „Prien! Fliegeralarm! Wieder Bombardement von München“. Am 27. November: „Schwerster Terrorangriff auf München“.

Nach über fünf Jahren Krieg nahte nun das Ende – das spürte man im Herbst 1944 auch im ländlichen Oberbayern. Erstaunlicherweise, so weiß man heute, war vor allem diese letzte Phase des Krieges nun auch für die deutsche Seite mörderisch: „Wäre das Attentat auf Hitler im Juli 1944 geglückt und der Krieg sofort beendet worden“, so schreibt der britische Historiker Ian Kershaw, „hätten nur halb so viele deutsche Soldaten ihr Leben auf dem Schlachtfeld lassen müssen.“

Die Bilanz war ungeheuerlich: 5,3 Millionen der rund 18 Millionen Wehrmachts-Soldaten waren gestorben – also fast jeder dritte. Während des gesamten Krieges sind, wie das Statistische Landesamt 1970 ermittelte, 320 400 Soldaten aus Bayern gefallen, für tot erklärt oder für immer vermisst. Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg waren es knapp 200 000. Hinzu kamen jetzt aber noch die Verluste unter der Zivilbevölkerung. In Bayern waren es mindestens 33 600 getötete Zivilpersonen, zumeist natürlich infolge des Bombenkrieges, der in ganz Deutschland nach vorsichtigen Schätzungen etwa 500 000 Opfer forderte. Über 6600 waren es allein in München. Und tausende von bis zum Schluss unerbittlich ermordete Verfolgte – Juden, ausländische Zwangsarbeiter – sind in dieser Bilanz des Schreckens noch gar nicht enthalten.

Während nun fast täglich Bombergeschwader über den Chiemsee flogen, wie August Meier beobachtete, schrumpfte der deutsche Machtbereich in atemberaubendem Tempo „auf einen schmalen Schlauch“ zusammen, wie ein entgeisterter Joseph Goebbels in sein Tagebuch notierte. Mitte Dezember 1944 hatten die Amerikaner im Westen den Westwall erreicht – und damit den deutschen Einflussbereich ungefähr auf den Stand vor dem Krieg zurückgeführt.

Nur vier Monate später, am 25. März 1945, eroberten US-Truppen erstmals bayerischen Boden. Die „Festung Aschaffenburg“ hielt eine Woche – dann ergaben sich die letzten fanatisierten Wehrmachts-Einheiten. Am 13. April erreichten sowjetische Truppen Wien, am 16. April begann schon der Angriff auf die Hauptstadt. „Wir geben hier in Berlin Befehle, die unten gar nicht mehr ankommen“, seufzte Goebbels. Deutschland „implodierte“, bilanziert der Historiker Kershaw.

Das Inferno der Gewalt hätte nun auch dem letzten Hitler-Gläubigen jede Illusion über den Charakter des NS-Regimes austreiben können. Doch sogar in den letzten Kriegswochen mischten sich Resignation und Zweifel mit Fanatismus und unbedingtem Durchhaltewillen. Selbst mit der Befreiung Münchens am 30. April war der Krieg noch nicht vorbei. In den Dörfern weiter südlich dauerten die Kampfhandlungen eine Woche länger – in Kreuth am Tegernsee kamen die US-Truppen erst am 5. Mai um 1 Uhr mittags an –, und fast immer ging das einher mit Toten und Verletzten. Viele Dörfer in Oberbayern, bislang vom Krieg fast unberührt, durchlebten schwere Stunden. Bestrafungsaktionen fanatischer SS-Einheiten, Tieffliegerangriffe, in Brand geschossene Bauernhöfe, verletzte Kinder durch herumliegende Munition – all das kennzeichnet jene letzte Eskalationsphase, die Historiker die „Niemandszeit“ nennen.

Je näher die Front rückte, desto hektischer wurden die Fluchtbewegungen. „Tag und Nacht sausen und rasseln ununterbrochen Kraftwagen, Personenautos, Sanitätswagen, Lastwagen, vollgepfropft mit Lebensmitteln und Vorräten, Wein und Spirituosen, Munition und dergleichen dem Spitzinggebiet oder Bayrischzell und der Landesgrenze zu“, berichtete der Pfarrer von Schliersee Mitte April 1945.

Entgeistert sah die Landbevölkerung jetzt auch das, was die Nazis bis dahin eher geheim gehalten hatten: den Holocaust vor der Haustür. Kolonnen von abgemagerten KZ-Häftlingen marschierten kreuz und quer durch das Oberland. Tausende jüdische Häftlinge aus Litauen kamen von den KZ-Außenlagern Kaufering/Landsberg, weitere tausende vom KZ Dachau, hunderte weitere russische Häftlinge vom KZ-Außenlager München-Riem zogen durch Grünwald, wo sie der Vater des Apothekers Ralph Erich Koch heimlich fotografierte.

Erst südlich von Tölz wurden die ausgemergelten Gestalten von der US-Armee eingeholt und befreit. „Sie konnten kaum mehr gehen vor Hunger und Müdigkeit, baten flehentlich um Brot und Wasser“, schrieb der Stadtpfarrer von Bad Tölz, Anton Seebäck.

Die Kriegsendephase forderte auch noch andere Opfer: Mutige Bürger, die sich in den letzten Stunden den Nazis in den Weg stellten, wurden nicht selten brutal beseitigt. So wurde der Regensburger Domprediger Johann Maier zusammen mit dem Einwohner Josef Zirkls auf einem Stadtplatz am 24. April 1945 öffentlich gehenkt – sie hatten um kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner ersucht. Nichts anders erging es schon eine Woche zuvor in Ansbach dem 18-jährigen Schüler Theodor Limpert, der am Rathaustor aufgeknüpft wurde – er hatte eine Telefonleitung der Wehrmacht durchgeschnitten. Ein deutsches Feldgericht verantwortete auch die Hinrichtung eines Soldaten – mutmaßlich ein Deserteur – bei Deining nahe Wolfratshausen. Und das war beileibe kein Einzelfall. Bis zuletzt war zu rasches Handeln lebensgefährlich, man musste den richtigen Moment abpassen, bevor man den „Amis“ mit der weißen Fahne in der Hand entgegenlief. Der Bürgermeister von Schneizlreuth verpasste den Moment – er starb. Vor allem um die Brücken über Flüsse wurde bis zuletzt erbittert gekämpft. Etliche versanken in den Fluten, etwa die Brücke der „Reichsautobahn“ über die Mangfall oder die Amperbrücke bei Dachau.

Erst am 9. Mai 1945 morgens um Viertel vor eins war der Schrecken endgültig vorbei. Da unterzeichnete Hitlers Generalfeldmarschall Keitel im Hauptquartier der sowjetischen Armee im fernen Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde in fünffacher Ausfertigung. Deutschland hatte endgültig kapituliert – zum zweiten Mal. Die erste Kapitulation am 7. Mai, unterzeichnet von Generalfeldmarschall Alfred Jodl im französischen Reims hatte Stalin auch aus Prestigegründen nicht anerkannt.

Nur die von Hitler kurz vor seinem Tod eingesetzte Regierung des Admirals Karl Dönitz amtierte in Flensburg weiter, als sei nichts geschehen. Jeden Morgen um zehn traf sich das Kabinett zur Sitzung. Es debattierte sogar über die Frage, ob ein Kirchenminister notwendig sei. Dönitz selbst ließ sich in seltsamer Verkennung der Lage mit „Herr Großadmiral“ anreden. Doch am 23. Mai war auch das vorbei. Die Alliierten verhafteten kurzerhand das Grusel-Kabinett.

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