Jetzt werden sogar Krebsmittel knapp

von Redaktion

Lieferengpässe machen Krankenhäusern massiv zu schaffen – „Es wird immer schwieriger“

München – Hightechgeräte und moderne Therapien: Damit glänzt die Medizin in Deutschland. Doch hinter der Fassade kämpfen Kliniken mit einem massiven Problem: Lieferengpässe bei Arzneien zwingen sie immer öfter zum Improvisieren. Monika Andraschko, Chefapothekerin des Klinikums der LMU München, erlebt das fast täglich – und sieht „dringenden Verbesserungsbedarf“. Ein Gespräch über Mangel in einem reichen Land.

Wie häufig sind Lieferengpässe in Klinikapotheken?

Sie sind in den vergangenen drei Jahren massiv gestiegen. Aktuell, Stand 2. Dezember, haben wir 245. Ein Lieferengpass bedeutet dabei nicht zwingend einen Versorgungsengpass – oft kämpfen wir mit der Bevorratung und Beschaffung. Das ist mittlerweile extrem aufwendig! Wir brauchen zusätzliches Personal.

Welche Arzneien sind besonders häufig betroffen?

Das gesamte Spektrum: Das reicht von einfachsten Infusions- und Kochsalz-Spüllösungen – für Patienten im OP hochwichtig – bis hin zu speziellen Arzneien. Der Schwerpunkt im Krankenhaus liegt auf Arzneien, die intravenös verabreicht werden. Es geht um Zytostatika für die Krebstherapie und Antibiotika. Aber wir sind auch, wie öffentliche Apotheken, von der extremen Knappheit des Schmerzmittels Ibuprofen betroffen. Zudem verzeichnen wir Engpässe bei Hormonpräparaten und Narkosemitteln wie „Propofol“. Der Hersteller ist gesetzlich verpflichtet, Lieferengpässe rechtzeitig an die Krankenhäuser zu melden. Oft erfahren wir aber erst bei der Bestellung, dass etwas nicht lieferbar ist.

Was machen Sie dann?

Wir schauen: Reichen unsere Vorräte? Können wir auf eine andere Packungsgröße oder Dosierung ausweichen? Gibt es einen anderen Lieferanten? Dabei müssen wir stets die Arzneimitteltherapie-Sicherheit im Blick behalten – und Ärzte und Personal intensiv über Umstellungen und Änderungen informieren. Wir planen mit Ärzten, was wir machen, wenn bestimmte Antibiotika nicht lieferbar sind, und geben Informationsblätter an die Anwender – wie beim großen Ausfall von „Piperacillin/Tazobactam“ im Jahr 2018 nach der Explosion in einer chinesischen Fabrik, die den Rohstoff produziert.

Wie sieht es bei Krebsmedikamenten aus?

Da gibt es eine besonders starke Verknappung! Generell gibt es immer weniger Hersteller für die Produktion einzelner Arzneimittel, gerade bei Chemotherapeutika. Der Grund: Die Gewinnmargen werden geringer, viele Hersteller ziehen sich zurück. Aktuell ist etwa „Oxaliplatin“ durch unseren Vertragslieferanten nicht lieferbar. Das Chemotherapeutikum ist sehr viel im Einsatz, etwa bei Darmkrebs. Immerhin gibt es hier mehrere Anbieter. Das ist nicht immer so.

Waren Patienten durch Engpässe schon in Gefahr?

Nein. Wir haben es stets geschafft, unsere Patienten gut zu versorgen. Aber: Wir haben extrem zu kämpfen. Es wird immer schwieriger.

Wenn jetzt auch noch Narkosemittel knapp werden: Müssen OPs ausfallen?

Wir haben natürlich Vorräte – Krankenhäuser haben eine Bevorratungspflicht von 14 Tagen – und wir haben teils mehr da. Aber: Der aktuelle Engpass beim Narkosemittel „Propofol“ ist herausfordernd. Wir arbeiten intensiv mit den Anästhesisten zusammen, um den Engpass gut zu managen. Gerade wurden wir mit 70 Prozent unseres Bedarfs beliefert. Trotzdem steht es Spitz auf Knopf! Wir hoffen, dass wir nächste Woche  wieder beliefert  werden.

Wer trägt die Verantwortung für diese Lage?

Eine Ursache ist sicher der Preisdruck durch die Kostenträger – etwa durch Rabattverträge und über die Fallpauschalen; da geht es um jeden Cent. Mitverantwortlich ist in meinen Augen auch die Pharmaindustrie, die teilweise im globalisierten Markt deutlich Schwierigkeiten mit ihren Prozessen hat.

Was müsste sich ändern?

Wir als Klinikapotheker fordern eine gesetzliche Pflicht der Hersteller, alle Lieferengpässe an das BfArM, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, zu melden. Wir fordern zudem eine Bevorratungspflicht für die Industrie. Apotheken und Großhändler sind per Gesetz dazu verpflichtet, Vorräte im Lager zu haben. Für die Industrie gilt das derzeit nicht. Wir fordern zudem eine Lieferpflicht der Hersteller, nicht nur an pharmazeutische Großhändler, sondern auch an Krankenhäuser. Wir gehen immer wieder leer aus. Als große Uniklinik wird man manchmal bevorzugt.

Was ist mit den kleineren Kliniken?

Die haben es teilweise schwerer. Im vergangenen Jahr ging das so weit, dass Apotheker von kleineren Häusern in Bayern bei den Unikliniken Spüllösungen für ihre OPs organisieren mussten, weil sie nicht beliefert wurden. Das nimmt teils groteske Züge an. Es wird geflickt und improvisiert, eine geregelte Beschaffung kann man das jedenfalls nicht mehr nennen.

Deutschland war mal „die Apotheke der Welt“ …

Aber die Globalisierung betrifft auch die Produktion von Medikamenten. Arzneimittel sind Güter besonderer Art, die lebenswichtig sind. Man muss sicherstellen, dass wir damit ausreichend versorgt werden können. So sollte man bei Ausschreibungen die Lieferfähigkeit und die Liefersicherheit zum zentralen Punkt machen. Wir sehen dringenden Verbesserungsbedarf! Zudem müssen auch alle anderen Beteiligten im Gesundheitswesen mitwirken und ihre Beschaffungspraxis überdenken.

Interview: Andrea Eppner

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