Die Spur führt in den Kreml

von Redaktion

Es klingt nach Thriller, aber es ist Wirklichkeit: In Berlin erschießt ein Auftragskiller einen Georgier. Der Fall ist hochbrisant und hochpolitisch – Deutschland hat bereits zwei russische Diplomaten ausgewiesen. Russlands Außenminister droht mit Vergeltung. Nur der Täter schweigt eisern.

VON STEFAN SESSLER UND WOLFGANG HAUSKRECHT

München – Es ist der 23. August 2019, ein Freitag, kurz vor 12 Uhr mittags. Tornike K. ist auf dem Weg in eine Berliner Moschee. Es ist der Weg, den der 40-jährige Tschetschene mit georgischem Pass jeden Freitag geht, durch den Kleinen Tiergarten. Plötzlich nähert sich ein Mann auf dem Fahrrad – und schießt. Zwei Kugeln treffen das Opfer in den Kopf. Der Täter, Vadim S., ein 49-jähriger Russe, flüchtet, wirft Tatwaffe und Fahrrad in die Spree. Zwei 17-Jährige beobachten ihn und informieren die Polizei. Die schnappt Vadim S. in einem Gebüsch – frisch umgezogen. Neben ihm steht ein Motorroller, auf dem er weiter fliehen wollte. Bei Vadim S. wird eine größere Summe Bargeld gefunden. Die Tat eines Profis: Alles ist perfekt vorbereitet.

Vadim S. schweigt bisher eisern. Trotzdem kommen immer neue Details ans Licht – die nun eine deutsch-russische Staatskrise ausgelöst haben. Denn der Mord, glaubt die Bundesanwaltschaft, könnte vom russischen Staat beauftragt worden sein.

Tornike K. galt dem Kreml als Terrorist. Sein eigentlicher Name ist Zelimkhan Khangoshvili. In Berlin lebte der Tschetschene unter neuem Namen. Aus Angst vor Anschlägen auf sein Leben.

Tornike K. kämpfte im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland. Zwischen 2000 und 2004 befehligte er eine tschetschenische Miliz. Nach Kriegsende kehrte er nach Georgien zurück und stellte laut Bundesanwaltschaft eine 200 Mann starke Kampfeinheit zur Verteidigung Südossetiens auf.

Wie Weggefährten dem britischen „Guardian“ sagten, hielt er weiter Kontakt zu den Aufständischen, organisierte Lieferungen über die Berge nach Tschetschenien und half, verwundete Kämpfer zu evakuieren. Khangoshvili, wie er damals hieß, soll kein Islamist gewesen sein. „Er war immer dagegen, dass Tschetschenen zum Kämpfen nach Syrien oder Afghanistan gehen“, sagte Saikhan M. dem Guardian. Saikhan M. hatte den 40-Jährigen noch drei Monate vor seiner Ermordung in Berlin getroffen. „Er war der Meinung, unser einziger Kampf ist der gegen Russland.“

Tornike K. wusste, dass er in Gefahr ist. Wie seine Frau dem Spiegel sagte, habe er mehrere Anschläge überlebt. 2009 soll es einen Giftanschlag gegeben haben, im Mai 2015 trafen ihn vier Kugeln, als ein unbekannter Täter auf sein Auto schoss. K. überlebte. Schließlich floh die Familie. Erst in die Ukraine, dann nach Polen und schließlich nach Deutschland. Seit 2016 lebte Tornike K. in Berlin.

Nun also hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen zu dem brisanten Fall übernommen. Wie die Behörde gestern mitteilte, gebe es „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“, dass der Mord an Tornike K. „entweder im Auftrag von staatlichen Stellen der Russischen Föderation oder solchen der Autonomen Tschetschenischen Republik als Teil der Russischen Föderation erfolgt ist“. Das Gesamtbild der Ermittlungen weise auf einen politischen Hintergrund hin. Es gebe keine Hinweise „auf eine wie auch immer geartete Verbindung“ zwischen Täter und Opfer, ebenso kein persönliches Motiv noch Bezüge zur organisierten Kriminalität oder zu islamistischem Terrorismus.

Und es gibt zwei weitere Punkte, auf die sich die Ermittler bei ihrer These stützen. Ein Punkt ist der Täter.

Vadim S. hat wohl schon einmal gemordet. Die Tat ereignete sich am 19. Juni 2013 in Moskau. Ein russischer Geschäftsmann starb damals durch zwei Schüsse in Oberkörper und Kopf. Der Mörder näherte sich auf dem Fahrrad. Alles war genauso wie in Berlin. Damals wurde nach einem Vadim K. gefahndet. Es existierte eine russische Fahndungsakte – die im Juli 2015 plötzlich von den russischen Behörden gelöscht wurde.

Wie ein Fotoabgleich in den Fahndungsdatenbanken des Bundeskriminalamts nun ergab, sind Vadim K. und Vadim S. mit größter Wahrscheinlichkeit ein und dieselbe Person. Aus K. wurde S. Nur warum? Und durch wen?

Erstmals in Erscheinung tritt die Person Vadim S. in einem am 3. September 2015 ausgestellten russischen Inlandsreisepass – der laut Bundesanwaltschaft nicht einmal zwei Monate nach der Löschung der Fahndung ausgestellt wurde. Bei seiner Festnahme hatte der 49-Jährige einen Reisepass bei sich, der nach Angaben der russischen Behörden echt ist. Am 17. August 2019 flog Vadim S. nach Paris. Und hier kommt ein zweiter Punkt ins Spiel, der zum russischen Staat führt. Der Visumsantrag.

Dem Antrag war laut Bundesanwaltschaft eine Arbeitgeberbescheinigung beigefügt. Demnach arbeitete Vadim S. als Bauingenieur für die Firma ZAO RUST aus St. Petersburg und verdiente 80 000 Rubel im Monat. Laut Handelsregister hatte ZAO RUST zuletzt aber nur einen Mitarbeiter und nahm 2018 gerade mal 80 000 Rubel ein. Die Faxnummer der Firma konnte zudem zwei anderen russischen Unternehmen zugeordnet werden – sie gehören dem russischen Verteidigungsministerium.

Vadim S.. traf den Ermittlungen zufolge frühestens am 22. August in Berlin ein. Zu knapp, um das Opfer auszuspähen oder die Tat logistisch vorzubereiten. Es gab also vermutlich Helfer. Und die Ermittler glauben, dass all diese Fäden zu staatlichen russischen Stellen führen.

Russland reagierte empört auf die Vorwürfe und die Ausweisung seiner Diplomaten. Das Vorgehen Deutschlands sei unfreundlich und unbegründet, teilte das russische Außenministerium mit. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, bei einem Verbrechen dieser Bedeutung und mit diesem Hintergrund könne er dem Generalbundesanwalt nur danken, dass er das Verfahren an sich gezogen habe.

Inzwischen hat sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußert – der Fall hat also die höchste politische Ebene erreicht. Die Ausweisung der Diplomaten als Gegenmaßnahme sei nötig gewesen, sagte sie gestern in London, „weil wir nicht gesehen haben, dass Russland uns bei der Aufklärung dieses Mordes unterstützt“. Sie erwarte aber nicht, dass die diplomatischen Spannungen zwischen Berlin und Moskau den bevorstehenden Ukraine-Gipfel beeinträchtigen werden.

Das kann man glauben. Muss man aber nicht. Die deutsch-russische Krise beginnt womöglich gerade erst. Wie zum Beweis meldete sich gestern Außenminister Sergej Lawrow von Sotschi am Schwarzen Meer aus zu Wort. Eine Antwort, sagte er, werde nicht lange auf sich warten lassen.

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