München – Irgendwann in den kommenden Monaten wird Johann Regen ein Bestattungsunternehmen aufsuchen und für seine eigene Beerdigung bezahlen. Er wird dort 7000 Euro ausgeben – 3500 für sich, 3500 für seine Frau. Das war es dann. Ende des Jahres geht dem 69-Jährigen das Geld aus. Die Kosten für die Pflege seiner Frau haben dann fast alles aufgefressen, was sie sich angespart hatten. „Ich werde zum Sozialfall“, sagt Regen, der in Wirklichkeit anders heißt. Die Beerdigungen bezahlt er vorab, weil er es dann vielleicht nicht mehr kann.
46 Jahre hat Johann Regen gearbeitet, die letzten 30 davon als Elektrotechniker in einem großen Unternehmen am Rande von München. 2008 nahm er eine Abfindung an und ging in Altersteilzeit, zwei Jahre später – mit 60 – dann in Rente. Eigentlich dachte er, sie wären fürs Alter gut abgesichert, sagt Regen. „Ich habe immer geschaut, dass ich etwas auf die Seite bringe.“ Seine Frau und er kommen gemeinsam mit der betrieblichen Absicherung auf rund 3800 Euro monatlich. Eine kleine Erbschaft kam auch noch dazu. „Ich wäre heute eigentlich kein armer Mann.“
Dass es nun doch richtig eng wird, liegt daran, dass seine Frau schwer krank wurde. „Im Juli 2010 haben wir noch zusammen auf der Hochzeit unserer Tochter getanzt“, erinnert sich Regen. Damals klagte seine Frau schon darüber, dass ihre Beine wehtaten. Im Dezember konnte sie schon nicht mehr das Haus verlassen. Starke Rheumabeschwerden waren ganz plötzlich aufgetreten und wurden immer schlimmer.
Ab Mitte 2011 war Johann Regens Frau ans Bett gefesselt. Ein Pflegedienst kam nun täglich. „Im Herbst 2012 konnte ich sie wegen ihrer Schmerzen kaum noch berühren“, sagt Regen. Die Pflegedienstleiterin sprach ihn eines Tages an. Seine Frau habe schon zweimal Mitarbeiter um Sterbehilfe gebeten.
Im Dezember 2012 kam sie ins Krankenhaus. „Nach zwei Wochen haben mir die Ärzte gesagt, dass sie künftig im Pflegeheim leben muss“, erzählt Regen. Weitere zwei Wochen hatte er Zeit, einen Platz zu suchen. Am Rande von München fand er ein Heim, in dem seine Frau bis heute lebt. Sie wiegt noch 30 Kilogramm. Nur ihre Hände kann sie noch bewegen. Johann Regen besucht sie fast jeden Nachmittag. „Meine Tage sind kurz“, sagt er. „Ich fühle mich wie gefangen.“
In Deutschland übernimmt die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten, die für die Versorgung Pflegebedürftiger anfallen. Der Rest, den Heimbewohner oder Angehörige tragen, setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Neben dem Eigenanteil für die reine Pflege kommen noch Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen dazu – im Bundesdurchschnitt ergibt das derzeit rund 1900 Euro im Monat. Doch die regionalen Unterschiede sind groß. In Bayern sind die Eigenanteile oft höher. Und sie drohen weiter zu steigen. Denn allein die gerade beschlossene Anhebung der Mindestlöhne in der Pflege werde weitere Milliarden nötig machen, hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kürzlich angekündigt.
Eine Küche am Stadtrand von München. Auf dem Tisch liegt eine DIN A4-Seite, auf der Johann Regen fein säuberlich aufgeschrieben hat, was an Geld rein und raus geht. Rund 2800 Euro kostet das Pflegeheim jeden Monat. Das ist die Zuzahlung für all das, was die Pflegeversicherung nicht übernimmt. Zwar wurde 2019 ein Gesetz beschlossen, nach dem Kinder nur für die Pflegekosten ihrer Eltern einspringen müssen, wenn ihr Bruttoeinkommen über 100 000 Euro liegt. Aber für Ehepartner gilt das nicht.
Was übrig bleibt, reicht nicht. 800 Euro für die Miete, rund 700 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung, 500 Euro für Essen und Trinken, 100 Euro für Benzin – dazu kommen Strom, Telefon, Rundfunkgebühren und andere Fixkosten. Am Ende fehlen jeden Monat gut 1300 Euro. Sein Angespartes rinnt Johann Regen durch die Finger.
Wohlfahrtsverbände und Verbraucherzentralen fordern ein Gegensteuern. Und an Vorschlägen mangelt es nicht: Die SPD plädiert dafür, die Eigenanteile zu deckeln. Alles, was über einen gewissen Betrag hinausgeht, müsste dann automatisch die Pflegeversicherung tragen. Auch die Grünen denken in diese Richtung. „Die Schuldenuhr der Bundesregierung bei den pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien läuft immer schneller“, sagt Kordula Schulz-Asche unserer Zeitung. Die Pflege-Sprecherin der Bundestags-Grünen nennt es „schwer nachvollziehbar, warum Spahn noch immer keinen Vorschlag vorgelegt hat“.
Tatsächlich hat der Gesundheitsminister angekündigt, dass er „die Balance zwischen der familiären Verantwortung und der Gesellschaft“ neu justieren will. Keine leichte Aufgabe. Denn die Pflegeversicherung ist 1995 auch deshalb als Teilkasko angelegt worden, weil sonst viel höhere Beiträge gezahlt werden müssten – besonders, wenn die Zahl der Pflegebedürftigen wie prognostiziert immer weiter steigt. „Grundsätzlich sind die Möglichkeiten, Pflege besser zu finanzieren, begrenzt: mehr private Vorsorge, höhere Eigenanteile, steigende Beiträge oder Steuerzuschüsse“, schreibt das Ministerium auf Anfrage unserer Zeitung.
In den kommenden Monaten will Spahn auf sechs Veranstaltungen in ganz Deutschland mit Bürgern darüber diskutieren. Zur Jahresmitte will er dann einen Vorschlag machen.
Für Johann Regen wird das wohl zu spät kommen. „Ich fühle mich alleingelassen“, sagt er. Vor einigen Jahren war er schon einmal beim für Sozialhilfe zuständigen Bezirk Oberbayern, um nachzufragen, was auf ihn zukommen wird. Dort habe man ihm aber nicht einmal einen Stuhl angeboten. „Die haben mich nur gefragt: Haben Sie noch Geld?“ Er solle wiederkommen, wenn es ihm ausgeht, habe man ihm gesagt. Bald ist es so weit.
Am Ende fehlen ihm jeden Monat gut 1300 Euro
Zur Jahresmitte will Spahn einen Vorschlag machen